Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)
sie aufgegeben.
Trotz dieser »medialen Kampagne« gelang es ihr im Juni 2008, nach monatelanger Zankerei, ihre Landesfraktion zu einer gemeinsamen Position zu versammeln und auf einem Parteitag für den Koalitionsvertrag mit den Grünen eine überwältigende Zustimmung von achtundneunzig Prozent der Parteimitglieder zu bekommen. Den Abschluss dieses Koalitionsvertrags, erinnert sie mit mattem Ausdruck, war einer der Momente, die sie hätte feiern sollen, wenigstens das »kurze Hochgefühl« genießen. Sie erlebte den Abend als einen der schlimmsten: »Ich war sechsunddreißig Stunden am Stück wach, musste das Ergebnis der Verhandlungen einer extrem kritischen Fraktion vermitteln und danach noch in einer Pressekonferenz begründen. Ich war am Ende meiner Kräfte.« Und das »Negativgefühl«, die Zweifel und die Schuld schwangen die ganze Zeit mit.
Die Treibjagd, der sie sich bis dahin ausgesetzt sah, war zu einem Hamsterrad geworden. Sie erinnert sich an so manche Situation, in der sie hinwerfen wollte, einfach davonlaufen, aber »es gab kein Entkommen, ich hatte eine Riesenverantwortung, das Rad musste weitergedreht werden«.
Dass sie womöglich zu anderen Entscheidungen gekommen wäre, mit einem kühlen Kopf und einer Zeit der Abwägung, die in der Politik längst eine romantische Illusion geworden ist, davon ist sie überzeugt. Viel zu hysterisch sei die Zeit gewesen, um nachzudenken und zu analysieren, beschreibt sie die damaligen Umstände, ohne sie als Rechtfertigung benutzen zu wollen: »Ich habe mich so sehr treiben lassen, das mache ich mir zum Vorwurf.«
Vorwürfe macht sie überhaupt viele: Den Parteikollegen, dem Zeitgeist, den Medien, aber auch immer wieder sich selbst. Weil sie sich verloren hat zum Beispiel, nicht mehr selbst reflektierte, sondern sich von den Spiegelungen des Umfeldes hat verunsichern lassen. Allesamt Selbsteinschätzungen, die besagen: Wäre ich bei mir geblieben, ich hätte es anders gemacht.
Wenn sie sich selbst erklärt, dann fundiert sie ihre Thesen häufig mit Verweis auf ihre psychosoziale Ausbildung. Auch die Überzeugung, dass ihr Fall nur so passiert ist, weil sie eine Frau ist, begründet sie mit profunden soziologischen Theorien. Aber warum es oft Frauen sind, die sie mit besonderer Härte attackieren, mag sie mir nicht verraten. Auch wenn sie es zu wissen glaubt. Wichtiger sei, »dass immer noch Leute zu mir kommen, die sagen, einen Mann hätte man nie so behandelt«. Überhaupt sei diese Situation einzigartig gewesen. In jeder Hinsicht. Nur Willy Brandt, den habe man damals mit ähnlicher Vehemenz angegriffen.
Entfernt von ihrem Wesenskern und verlassen von ihrem Urteilsvermögen, hat sie den Showdown nicht kommen sehen, der das monatelange unwürdige Geschachere auf die schlimmstmögliche Weise beendete. Wenige Tage nach der Zustimmung des SPD-Parteitages zum Koalitionsvertrag sollte die Wahl zur Ministerpräsidentin durch Tolerierung der Linken nun endgültig stattfinden. Die Erschöpfung und die erniedrigenden Begleiterscheinungen ließen längst nicht mehr zu, dass dieser Termin ein erhabenes Datum auf ihrem Lebensweg sein konnte. Sie musste es jetzt einfach zu Ende bringen. Das, wofür sie angetreten und gewählt war. Eine andere Ministerpräsidentin zu sein. Auch wenn anders längst zu etwas anderem geworden war als das, was sie ursprünglich damit verbunden hatte. Selbst viele ihrer Anhänger sahen sie inzwischen als Inkarnation des Politikertypus, den abzulösen sie angetreten war.
Wäre sie noch bei sich gewesen, fähig zur Introspektion, sie hätte die Zeichen wahrgenommen und die Rachegelüste ihres parteiinternen Widersachers erkannt, dem sie zuvor die Wunschfunktion verwährt hatte. Dem »intrigenspinnenden« Aspiranten nicht den begehrten Job zu geben, obwohl sie sich damit vermutlich seine Unterstützung erhandelt hätte, das war ihre fachliche Überzeugung. »Weil ich meistens nur das getan habe, womit ich mit mir im Reinen war.« Das ist ihr wichtig.
So vertrat sie auch schon damals Positionen, die im Zusammenhang mit Andrea Ypsilanti niemand erwähnt, auch wenn sie im Nachhinein recht bekommen hat mit so mancher ihrer Einschätzungen. Aber sie hat auch die drängenden, womöglich klärenden Gespräche nicht geführt, mit den nörgelnden Kameradinnen. Das war fehlende Sensibilität.
Immer wieder kommt Andrea Ypsilanti auf die überfahrenen Signale zurück. Und auf den sich ankündigenden Verrat, den sie nicht wahrhaben wollte. Obwohl es
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