Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)
Frauenfiguren.
Sie sei nervös, sagt sie direkt zum Einstieg, ohne dass es dieses Hinweises bedurft hätte. Die Premiere des Kieler Balletts steht unmittelbar bevor, und sie ist die stellvertretende Ballettdirektorin dieses Opernhauses. Ihr Mann, ebenfalls ein ehemaliger Balletttänzer, ist der Chef-Choreograph. Die Truppe ist neu zusammengestellt, es musste schnell gehen. »Der Nussknacker« wird in wenigen Tagen aufgeführt. Das Kieler Publikum ist kulturbegierig und erwartungsvoll.
Auch wenn ihre Anspannung die Freude ein wenig unterdrückt, verhehlt Heather Jurgensen nicht, dass sie ihr Glück kaum fassen kann, nun hier zu sein, an einem Ort, an den sie gehört, nach allem, was sie erlebt hat.
Nach ihrer Ankündigung, Neumeiers Company zu verlassen, musste sie die Saison noch ein halbes Jahr zu Ende tanzen. Zeit genug, sich von ihrem Publikum und ihren Figuren zu verabschieden. »Das war eine schwere Zeit, alles, was ich tat, tat ich irgendwie zum letzten Mal.« Sie sagte viele Male auf Wiedersehen, zu Cinderella, der Kameliendame, zu Nina, Olivia oder Tamara, den Heldinnen Tschechows, Shakespeares und Nijinskys. Immer mit dem Wissen, dass es keines geben kann.
Welche Möglichkeiten sie haben würde in der Zeit danach, das wusste sie nicht. Sie hatte keine Angst vor dem Ende. Aber umso mehr vor dem, was nach dem Ende kommen sollte. Davor, dass es nichts geben würde, was sie auf eine vergleichbare Weise fasziniert. Vor allem nichts, wovon sie glaubt, dass sie es auf eine vergleichbare Weise können wird.
Sie hat sich erst mal selbständig gemacht, weil man ihr beim Arbeitsamt sagte, das sei der beste Weg und sie keinen anderen sah. Sie half einem befreundeten Finanzberater, stundenweise. Nachmittags verkaufte sie im Laden eines Bekannten französische Delikatessen. Sie war sich nicht zu schade für diese Arbeit, aber sie hat immer gelitten unter dem Gefühl, sie habe »so wenig anzubieten«. »Ich hatte keine Softskills, keinen Abschluss, konnte nicht tippen, und fühlte mich nutzlos«, erzählt sie ohne Rührseligkeit. »Früher haben wir in der Garderobe oft gescherzt, dass wir später mal einen kleinen Laden haben würden«, wenn sie mal wieder genervt waren von der Strenge des Choreographen oder den schmerzenden Sehnen. »Aber die Realität ist anders, man vermisst so vieles.« Am allermeisten sagt sie, fehlte ihr das Zusammensein mit der Gruppe. Die Sicherheit und die Geborgenheit eines festen Ensembles. Berechenbare Beziehungen. Die geteilte Obsession als Wagenburg.
Den Applaus, die Verehrung des Publikums vermisst sie nicht. Balletttänzer sind es gewohnt, für einen Abend Glück zu bringen, mit ihrer Intensität zu verzaubern und wieder in die Anonymität zurückzutanzen. »Es hat mich nie gestört, nicht auf der Straße angesprochen zu werden, nicht berühmt zu sein«, beschreibt sie die Besonderheit der flüchtigen Bewunderung ihrer Kunst. »Es war mir sogar ganz recht so. Auch auf der Bühne war es mir viel leichter, mich bloß zu zeigen und nicht entblößt zu fühlen, weil ich mich komplett in andere Gestalten hineingelebt habe, diese Metamorphose habe ich geliebt.«
Die Gelegenheit, in andere Figuren zu fliehen, auch vor der eigenen Unsicherheit, danach sehnt sie sich noch heute manchmal. Ab und zu tut sie es zu Hause, dann spielt sie die Cinderella doch noch mal für ihren kleinen Sohn. Er weiß es natürlich nicht, aber er hat sie gerettet aus dem Gefühl der Wertlosigkeit und der Wehmut, wenn ihr Mann am Abend von seinem Tag mit der Kompanie erzählte. »Als ich schwanger wurde, habe ich wieder eine Aufgabe gefunden.« Und eine Antwort auf die ständigen Fragen danach, was sie jetzt anfangen soll mit ihrem Leben nach dem Ballett. Sie hat es oft als Belastung empfunden, nichts zu sagen zu wissen, und die Zurückhaltung, die sie plötzlich in der Begegnung mancher Menschen mit ihr wahrzunehmen glaubte, persönlich genommen. Dann hat sie solche Aufeinandertreffen lieber vermieden.
Doch auch als sie schwanger wurde, blieben ihre Zukunftsängste: »Ich wusste nicht, wie wir leben sollen, aber ich habe versucht, meine Sorgen von meinem ungeborenen Baby und meinem Mann fernzuhalten.« Sie ist schwimmen gegangen, gegen die Verzweiflung, hat Musik gehört. Selbst zum Tanzen im Wohnzimmer musste sie sich zwingen in dieser Zeit, von der sie sagt, es sei ihr Tiefpunkt gewesen, und keinen singulären Moment meint, sondern ein monatelanges Tal mit vielen tiefen Punkten.
Ihre Situation ist kein
Weitere Kostenlose Bücher