Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)
Monaten in Indien und zu unbelasteter Lebendigkeit. Montägliche Teamsitzungen hat er einberufen in seinem Praxisseminar fernöstlicher Managementkultur. »Es dauerte Tage, bis ich eine Tafel hatte, um den Wochenplan und die verteilten Aufgaben aufzuschreiben.« Wegen der Feuchtigkeit habe sich die Aufschrift im Verlauf der Woche nach und nach aufgelöst. Die europäische Vorstellung von Präzision sei während der Woche verrutscht, freut er sich an der plakativen Sinnbildlichkeit. Er ist noch heute berüchtigt für seine strenge Führung, erzählt er einigermaßen stolz. Vieles, was er initiiert hat, besteht noch immer. Er genießt es, etwas hinterlassen zu haben.
»Diese Zeit«, hält er eine Sekunde inne und verzichtet dabei auf jede verstärkende Pose, »hat mir das Leben gerettet.«
Heather Jurgensen verlässt Riga mit einem Abschluss und einer vagen Perspektive, aber die konkreten Sorgen verziehen sich erst, als der Anruf des Kieler Opernhauses kommt. Auch jetzt kann sie noch nicht sagen, wie die nächsten Jahre aussehen werden, der Vertrag ist zeitlich begrenzt. Aber sie ist zusammen mit ihrer Familie, und sie beschäftigt sich wieder mit Tanz. Die Chefrolle zu spielen fällt ihr anfangs noch schwerer als alle Rollen vorher. Sie möchte den Tänzern auch Ratgeberin sein und dabei weitergeben, was sie mitgenommen hat, vor allem aus der Zeit nach dem Ballett. »Ich habe vieles gelernt, vor allem Empathie und das Bewusstsein dafür, dass Leute, die in einer schwierigen Phase sind, Unterstützung brauchen.« In Deutschland, sagt sie, ist es schwer, eine Lücke im Lebenslauf zu erklären.
Ob sie sich besser kennengelernt hat in dieser Zeit? »Ja, auch durch die Momente, in denen ich mich nicht wie- dererkannt habe.« Sie hat verinnerlicht, dass sie Kraft hat, auch wenn sie ihre eigene Persönlichkeit tanzt. Und fühlt sich stärker dadurch, nun zu wissen, welche »Lifesavingmechanisums I have«.
Die Premiere des »Nussknackers« bekommt warmen Applaus.
Die Möglichkeit des Verarbeitens ist immer verbunden mit der Art des Abgangs und der Härte des öffentlichen Urteils. Heather Jurgensen ist unbeobachtet geblieben. Während ihrer Karriere und beim Stolpern über die herausfordernden Begleiter ihrer Krise. Es gibt keinen sichtbaren Makel, der ihre Zukunftsängste verstärkt. Ihre finale Aufführung war eine Huldigung. »Es war unglaublich berührend, so viel Liebe im Raum.« Und nach der letzten Verbeugung wurden Blumensträuße geworfen, gebunden mit den Namen ihrer berühmtesten Frauenfiguren. Andere bewirft man bei ihrem Abgang mit Schmutz.
Die ehemalige Bundesverbraucherschutzministerin Andrea Fischer sagte nach ihrem von Parteifreunden erzwungenen Rücktritt und schmachvollen kollegialen und medialen Grausamkeiten im Dokumentarfilm »Schlachtfeld Politik«: »Ich habe danach keine großartige Karriere mehr gemacht, weil die Erfahrung meines Ausstieges mir mein Selbstbewusstsein genommen hat.« Ihre Depression hielt zwei Jahre an.
Bei unfreiwilligen Abschieden bleibt die Offenkundigkeit des Scheiterns der tiefste Stachel. Das Gefühl, nicht genügt zu haben, vor den Augen aller abgestempelt zu sein. Oftmals geht dem Abgang ein schleichender, entwürdigender Prozess voraus. Verletzungen, die auch bleiben, wenn der Übergang in ein neues Leben gelingt. Wenn die Unschuld erst mal verloren ist, gibt es keine Rückkehr hinter den Punkt der negativen Erfahrung. Für manche verhindern einschneidende Erlebnisse einen Neuanfang auf belastetem Boden. Für andere ist ein Schritt aus der Öffentlichkeit notwendig, ein Verschwinden in der Masse. Alle erleben eine Veränderung im Kontakt mit Menschen und der eigenen Verletzlichkeit. Eine Erschütterung ihres Grundvertrauens.
Neben den seelischen Verarbeitungsaufgaben sind die Substitution dessen, was Leidenschaft und Lebensinhalt war, und die Akzeptanz der Veränderung die größte Herausforderung.
Abhängig davon, an welcher Stelle der Laufbahn das Scheitern passiert und ob der weitere Verlauf eine Rehabilitation ermöglicht, gestalten sich der friedvolle Rückblick und die konstruktive Auseinandersetzung. Es ist auch eine Frage des Lebensalters, wie groß die Chance auf eine seelenrenovierte Fortsetzung der Laufbahn an ähnlicher oder ganz anderer Stelle ist. Andrea Fischer war jung genug für den Neustart, sie versuchte sich mit Wirtschaftsjobs und TV-Moderationen, aber sie fand lange keine Aufgabe, die den Verlust kompensierte, die Erfahrungen zu verarbeiten
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