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Macht Musik schlau?

Macht Musik schlau?

Titel: Macht Musik schlau? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Jäncke
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bereitet Stotterern eigentlich keine Probleme. Selbst wenn im Hintergrund regelmäßige akustische Rhythmen zu hören sind (z.B. ein regelmäßiger Metronomtakt, eine tickende Uhr oder gar Musik im Radio), reduziert sich das Stottern erheblich. Nicht nur regelmäßige akustische Reize lindern das Stottern, sondern auch regelmäßig erscheinende visuelle oder taktile 70 Signale. In meiner Zeit als Hochschulassistent an der Universität Düsseldorf haben wir oft mit solchen taktilen Taktgebern gearbeitet. Dies waren kleine Geräte in der Größe von Streichholzschachteln, welche die Patienten in der Hand halten konnten. In diesen Taktgebern war ein kleiner Stab eingebaut, der gemäß einem vorher eingestellten Rhythmus gegen den Finger des Patienten drückte. Mit solchen Hilfsmitteln gelang es auch schweren Stotterern, im Alltag ihr Stottern zu reduzieren. Das Problem war jedoch, dass sich das Gesprochene immer hölzern (eben metronomartig) anhörte. Es blieb auch kein Platz für spontane emotionale Äußerungen, da der Stotterer immer mit dem voreingestellten Rhythmus sprach. Wichtig für dieses Kapitel ist jedoch die wiederholt gemachte Beobachtung, dass Stotterer für die Kontrolle ihrer eigenen Sprache offenbar auf externe Rhythmen zurückgreifen. Scheinbar können sie ihre eigene Sprache nicht mit einem
selbst erzeugten Rhythmus
kontrollieren. Man erkennt dieses Sprechproblem auch in den Phasen, in denen die Stotterer gar nicht stottern. Sie können z.B. in den symptomfreien Phasen nicht gut zwischen betonten und unbetonten Silben wechseln und sprechen sehr nivelliert (Jäncke et al., 2006). Obwohl dieses Rhythmisierungsdefizitoffensichtlich ist und durch die oben dargestellten Hilfsmittel (inkl. Hintergrundmusik und Singen) ausgeglichen werden kann, gelingt es nicht, dies in den Alltag zu übertragen und die Stotterer zu trainieren, ohne diese Hilfsmittel symptomfrei zu sprechen. Ein wesentliches Ergebnis dieser Forschung ist die Erkenntnis, dass für das Sprechen ein Rhythmus (ähnlich wie bei der Musik) als ordnendes Element notwendig ist.
    Ein ähnliches Phänomen wie bei den Stotterern kann man bei Patienten feststellen, die an einer Broca-Aphasie 71 leiden. Diese Patientengruppe leidet ja darunter, nicht mehr flüssig sprechen zu können. Hingegen können viele Broca-Aphasiker noch recht gut singen. Deshalb ist schon früh die Idee geäußert worden, über das Singen die Sprechfähigkeit bei diesen Aphasikern wieder herzustellen. Ein solcher Therapieansatz ist die
Melodic Intonation Therapy
(MIT), die insbesondere von Sparks und Kollegen vorgeschlagen wurde (Sparks, Helm und Albert, 1974; Albert, Sparks und Helm, 1973). Die MIT wurde 1973 durch einen klinischen Bericht über drei erfolgreich therapierte «
non-fluent»
72 Aphasiker eingeführt, nachdem schon Anfang der 1950er-Jahre für die Rehabilitation von expressiven Defiziten das Singen empfohlen wurde, weil man beobachtet hatte, dass viele Aphasiker zwar nicht sprechen können, aber sehr wohl in der Lage sind zu singen (Vargha und Gereb, 1959). Doch obwohl diese Therapieform schon vor fast 50 Jahren zum ersten Mal explizit beschrieben wurde, wird sie immer noch als relativ neu und experimentell betrachtet. Gleichzeitig ist sie bis heute die einzige Rehabilitationstherapie für Patienten mit Aphasie, die formal von der
American Academy of Neurology
(Anonymus, 1994) anerkannt wird, und außerdem die einzige Therapieform, für die eine Qualitätsaussage existiert. So wurde sie für Broca-Aphasiker als «vielversprechend» (im Original: «
promising»
) eingestuft, erreicht aber trotzdem nur ein durchschnittliches Rating, weil Nachweise von Langzeiteffekten nach wie vor fehlen (Anonymus, 1994). Schließlich wurden bis heute nur wenige Forschungsstudien durchgeführt, um die Effektivität dieser Therapie an einer großen Anzahl von Patienten zu untersuchen.
    Die MIT ist ein formales, hierarchisch strukturiertes Behandlungsprogramm und basiert auf der Annahme, dass Rhythmus und Betonung von sprachlichen Äußerungen primär von der rechten Hemisphäre kontrolliert werden und somit für Patienten mit einer Aphasie nach links-hemisphärischer Schädigung abrufbar sind. Aufgrund dieser Überlegungen werden Patienten schließlich dazu ermutigt, in der ersten Phase der Therapie Wörter zu singen und nicht zu sprechen. Im Fall

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