Macht Musik schlau?
Gestaltpsychologie bereits erkannt. Das bedeutet, dass unser Wahrnehmungssystem aus den vielen Einzelreizen, die uns die Umwelt anbietet, immer ein Ãbergeordnetes «Ganzes» konstruiert. Gelegentlich wird diese Wahrnehmungseigenschaft mit der Aussage «das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelteile» auf den Punkt gebracht. Bei der Musikwahrnehmung wird diese Eigenschaft unseres Wahrnehmungssystems besonders auffällig. So nehmen wir die Melodie nicht als eine Anhäufung einzelner Töne, sondern eben als ein zusammenhängendes Muster, nämlich als Melodie wahr. Diese Form der Melodiewahrnehmung ist allerdings bei Musikern und Nichtmusikern, trotz vieler Ãhnlichkeiten, in einigen Aspekten anders. Im Folgenden erlaube ich mir, einige Unterschiede in der Melodiewahrnehmung zwischen Musikern und Nichtmusikern darzustellen.
Eine finnische Arbeitsgruppe um den berühmten Neuropsychologen Risto Näätänen hat Musikern und Nichtmusikern Tonsequenzen dargeboten und überprüft, ob diese beiden Versuchsgruppen die Tonsequenzen anders zu Melodien gruppieren (van Zuijen, Sussman,Winkler, Näätänen und Tervaniemi, 2005). Hierbei haben sie sich insbesondere mit zwei Gesetzen aus der Gestaltpsychologie auseinandergesetzt: Dem Gesetz der Ãhnlichkeit und dem Gesetz der guten Fortführung. Die grundsätzliche Frage war, ob Musiker und Nichtmusiker diese beiden Gesetze unterschiedlich für die Melodiewahrnehmung einsetzen. Dazu haben die Forscher zwei Versuchsbedingungen verwendet: 1. Die Tonhöhenbedingung und 2. die Tonleiterbedingung. Die Tonhöhenbedingung wurde gewählt, weil sie relativ einfach ist und auch von Nichtmusikern gut zu bewältigen ist. Auch Nichtmusiker können recht gut unterschiedliche Töne erkennen. Bei der Tonleiterbedingung muss allerdings schon ein gewisses Ausmaà an Musikexpertise vorhanden sein. Im Folgenden werden ich diese beiden Bedingungen kurz darstellen. Im Rahmen der Tonhöhenbedingung werden nacheinander vier Töne mit gleicher Frequenz dargeboten, gefolgt von vier weiteren Tönen mit unterschiedlicher Frequenz. Bei dieser Form der Darbietung werden die ersten vier Töne von den Versuchspersonen aufgrund ihrer gleichen Tonhöhe als eine zusammengehörige Tongruppe wahrgenommen (Tonhöhenbedingung). Die folgenden vier Tonhöhe gelten dann als zweite Gruppe und werden demzufolge als eigenständige Melodie wahrgenommen.
In der Tonleiterbedingung werden nacheinander vier Töne mit aufsteigender Frequenz dargeboten. Wird ein fünfter nicht dazu passender Ton präsentiert, wird er aus der Melodie aussortiert und auch als nicht zugehörig empfunden. Musiker und Nichtmusiker können in beiden Bedingungen gut die nacheinander dargebotenen Töne zu Gruppen zusammenfassen. Auffallend ist, dass Musiker wie Nichtmusiker gleich gut in der Lage sind, in der Tonhöhenbedingung die jeweiligen Töne zu einer Gruppe zusammenzufassen. Im Ãbrigen konnten bei dieser Wahrnehmungsaufgabe auch keine Unterschiede in den Hirnaktivierungen zwischen Musikern und Nichtmusikern festgestellt werden (van Zuijen, Sussman, Winkler, Näätänen und Tervaniemi, 2005). Lediglich in der Tonleiterbedingung waren die Musiker den Nichtmusikern überlegen und wiesen auch etwa 100 Millisekunden nach der Darbietung eine
Mismatch Negativity
auf, die (wie bereits dargestellt) auf automatische Verarbeitungsprozesse im Hörkortex hindeutet. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass nicht alle Musiker Musik in gleicher Art und Weise wahrnehmen. Gerade bei komplexeren Musikreizen, wie z.B. bei der Melodiewahrnehmung, unterscheiden sich auch die Musiker untereinander (Seppanen, Brattico und Tervaniemi, 2007).
4.7.3
Das absolute Gehör
Definition, Erscheinungsbild und Entstehung
Die Fähigkeit, einen Ton ohne Zuhilfenahme eines Referenztones zu identifizieren (z.B. beim Hören eines Tones von 261 Hz den Tonnamen C anzugeben) oder zu erzeugen (z.B. durch Singen eines Tones mit der korrekten Tonhöhe oder durch Justieren der gehörten Tonhöhe auf einem Frequenzgenerator, ohne Bezug zu einem externen Referenzton) wird als absolutes Gehör (engl.:
absolute pitch
, AP) bezeichnet. Diese Definition wird gegenwärtig erweitert auf die Fähigkeit zu erkennen, ob ein bekanntes Musikstück in der richtigen Tonart gespielt oder gesungen wird. Die ursprüngliche und hier einleitend erwähnte Variante des absoluten
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