Macht Musik schlau?
zwischen Musikern und Nichtmusikern zu erwarten, wäre in etwa gleichzusetzen mit der Erwartung, dass zwischen Engländern und Italienern keine Unterschiede im Hinblick auf das Sprachverständnis von englischen und italienischen Texten bestehen würden. Alle entsprechenden Musiktests, die Rhythmus und Melodie überprüfen, kommen eindeutig zu dem Ergebnis, dass Musiker in der Wahrnehmung dieser Aspekte wesentlich besser als Nichtmusiker sind. Es ist allerdings zu bemerken, dass diesbezüglich auch zwischen Musikern Unterschiede zu finden sind. Ob diese durch unterschiedliche Begabungen, durch unterschiedliche Trainingsdauern oder durch unterschiedliche Strategien zustande kommen, ist derzeit noch ungeklärt. Während der Musikpsychologe Gordon eher davon ausgeht, dass musikalische Begabung die wesentliche Determinante für diese Wahrnehmungsunterschiede ist, gehen andere Kollegen davon aus, dass die Intensität der Musikerfahrung eine der wesentlichen Ursachen für die besondere Wahrnehmungsfähigkeit sei. Allerdings können auch Laien recht gut lernen, Melodie- bzw. Tonverläufe zu erkennen. Dies konnte der Psychoakustiker Charles S. Watson schon zu Beginn der 1980er-Jahre zeigen. Nach kurzem Training von etwa zwei Stunden können Nichtmusiker kleinste Veränderungen einer Zehn-Töne-Sequenz heraushören.
Besondere Verdienste in der Erforschung von Unterschieden hinsichtlich neuroanatomischer und neurophysiologischer Grundlagen von komplexen Musikwahrnehmungsprozessen hat der Leipziger Musikpsychologe Stefan Koelsch erworben. Er hat sich insbesondere mit der in der tonalen Musik üblichen Musiksyntax, so wie sie in der abendländischen Harmonielehre zum Tragen kommt, auseinandergesetzt (Koelsch, 2005; Koelsch und Siebel, 2005). Ein typisches Versuchsdesign seiner Untersuchungen umfasst die Darbietung von Dreiklangfolgen, wobei er beieinigen Dreiklangfolgen am Ende eine kleine Regelverletzung einbaut. Es müssen auch nicht unbedingt Regelverletzungen im Sinne der Darbietung von falschen Dreiklängen erfolgen, sondern es können auch Erwartungen an «übliche» Dreiklänge verletzt werden. Für den mehr oder weniger geübten Musiker wäre dies der Wahrnehmungsunterschied zwischen den Dreitonfolgen Tonika-Subdominante-Tonika (T-S-T) und Tonika-Dominante-Tonika (T-D-T). Vergleicht man die Spannungsverhältnisse der Folgen T-S-T und T-D-T, dann fällt auf, dass letztere sehr viel stärker zur Tonika drängt und deshalb eine stärkere Schlusswirkung hat. Das bedeutet, dass letztere Dreiklangfolge eher auf einen Schluss «hinarbeitet» und der Hörer bei dieser Dreiklangfolge einen Schluss erwartet. Ein anderes Paradigma, welches von Stefan Koelsch verwendet wurde, besteht darin, zwei Dreiklangfolgen darzubieten, wovon die eine nach der Harmonielehre korrekt ist und die andere eher als irregulär und damit als falsch wahrgenommen wird. Eine solche Wahrnehmung tritt ein, wenn der Dominanten eine Subdominante folgt. Diese Folge wird als irregulär aufgefasst, während die Folge Dominante-Tonika als regulär aufgefasst wird. Interessant ist, dass diese Wahrnehmung von Regularität auch bei Nichtmusikern festgestellt werden konnte, was Stefan Koelsch logisch schlieÃen lässt, dass sich selbst bei Nichtmusikern eine gewisse Expertise für die abendländische Harmonielehre herausgebildet hat. Insofern belegt dieser Befund, dass musikalische Laien wahrscheinlich durch ihr lebenslanges mehr oder weniger passives Hören eine implizite Expertise für die abendländische Harmonielehre entwickelt haben. Es wäre jetzt höchst interessant, Probanden aus anderen Kulturkreisen zu untersuchen, die weniger die abendländische Musik passiv und implizit genossen haben. Im Hinblick auf dieses Kapitel ist es allerdings wichtig, darauf hinzuweisen, dass geschulte Musiker deutlich im Vorteil sind, solche Regularitäten (Koelsch nennt diese Musiksyntax) zu erkennen. Stefan Koelsch hat sich auch den neurophysiologischen Grundlagen dieser Wahrnehmung der Musiksyntax zugewandt und eine Serie von bemerkenswerten EEG-Experimenten durchgeführt. Dabei hat er entdeckt, dass 180 bis 300 Millisekunden nach dem Auftreten der Irregularität über der rechten unteren Schädelseite (rechts frontal) ein typisches Potenzial auftritt. Da dieses Potenzial sehr früh in der Kaskade der Informationsverarbeitung auftritt, auf der rechten Seite
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