Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Macht Musik schlau?

Macht Musik schlau?

Titel: Macht Musik schlau? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Jäncke
Vom Netzwerk:
verbracht hatten, kam das absolute Gehör wesentlich häufiger vor. Viele der Asiaten, die einen Teil ihrer Kindheit in ihren Ursprungsländern verbracht hatten, erhielten auch ihren ersten Musikunterricht dort. Henthorn und Deutsch interpretieren ihre Daten vor dem Hintergrund ihrer Hypothese, dass die jeweilige Muttersprache einen starken Einfluss auf das Entstehen des absoluten Gehörs hat. Sie vermuten, dass die frühe Konfrontation mit tonalen Sprachen wie Kantonesisch oder Mandarin in gewisser Weise die Entwicklung des absoluten Gehörs begünstige. Ferner vermuten sie, dass selbst in der japanischen und koreanischen Sprache tonale Informationen von besonderer Bedeutung sind, so dass auch diese Sprachen günstig für die Entwicklung des absoluten Gehörs seien. Aufgrund dieser Befunde kann man somit davon ausgehen, dass genetische Einflüsse zumindest nicht als alleinige Ursache des absoluten Gehörs betrachtet werden können.
    Unabhängig davon, ob genetische Einflüsse an der Entstehung des absoluten Gehörs beteiligt sind, müssen auch Lerneinflüsse wesentlich an der Entstehung des absoluten Gehörs beteiligt sein. Der Grund für diese Annahme besteht darin, dass die meisten Absoluthörer Töne mit Notennamenverbinden. Insofern muss ein gewisses Ausmass von Erfahrung mit den Notennamen vorliegen, um diese Verbindung herzustellen.
    Etliche weitere Indizien sprechen dafür, dass Erfahrung und Lernen die Entwicklung des absoluten Gehörs fördern. So konnten einige Kollegen belegen, dass die am Klavier häufiger gespielten Töne der weißen Tasten von den absolut Hörenden besser erkannt werden, als die Töne, welche mit den schwarzen Tasten erzeugt werden. Auch sind die Reaktionszeiten auf Töne von weißen Tasten etwas schneller als die Reaktionszeiten auf Töne schwarzer Tasten. Einige Arbeiten berichten gar von heroischen Versuchen, in denen Versuchspersonen die Fähigkeit des absoluten Gehörs durch massives Training antrainiert wurde. Diese Trainingsmaßnahmen erfordern enorm viel Motivation und Zeit. Aber immerhin schafften es einige Versuchspersonen in der Tat, sich zumindest für eine Oktave so etwas wie das absolute Gehör anzutrainieren. Es wird auch berichtet, dass jene absolut Hörenden, die sehr spät mit dem musikalischen Training begonnen haben, die Töne weniger gut benennen können, als jene, die früher begonnen haben.
    Diana Deutsch ist im Zusammenhang mit dem absoluten Gehör durch die von ihr formulierte «Verlernhypothese» (engl.:
unlearning theory
) bekannt geworden. Sie geht davon aus, dass alle Kinder mit der Fähigkeit zum absoluten Gehör auf die Welt kommen, diese Fähigkeit jedoch durch das Lernen von Sprachen verlernen. Wenn jedoch in der frühen Kindheit ein intensiver Kontakt zu Musik (oder tonalen Sprachen) besteht, bleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Fähigkeit des absoluten Gehörs erhalten. Als relativ sicher gilt, dass so etwas wie eine «kritische Periode» existiert, in der die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung des absoluten Gehörs sehr hoch ist. Alle Untersuchungen, in denen absolut hörende Musiker retrospektiv nach dem Beginn des Musiktrainings gefragt wurden, ergaben, dass die meisten vor dem 7. Lebensjahr mit dem Musiktraining begonnen hatten. Dies zeigt sich auch in meinen Daten, die sich bemerkenswert mit denen von Daniel Levitin decken (Levitin und Rogers, 2005) (s. hierzu auch Abb. 38 ). Seit 1997 sammele ich die individuellen Daten der von mir und meinen Kollegen untersuchten absolut Hörenden und notiere, wann die Versuchspersonen mit dem Musiktraining begannen. Vorsicht ist hier geboten, denn es handelt sich bei diesen Untersuchungen um retrospektive Daten. Das heißt die Befragten geben an, wann sie
glauben
, mit dem Musiktraining begonnen zu haben. In der Regel ist dies nicht so problematisch, denn es besteht kein Grund, absichtlich Falschangaben zu machen. Es könnte natürlichdie Möglichkeit bestehen, dass Musiker sich nicht mehr so gut an den Beginn ihres Musiktrainings erinnern. Allerdings erschienen mir die Aussagen der Befragten durchaus glaubwürdig. Etwa 60 % aller von mir bzw. meinen Studenten untersuchten absolut Hörenden gaben an, vor dem 6. Lebensjahr mit dem Musiktraining begonnen zu haben. Fast der gesamte verbleibende Rest erinnerte sich an einen Beginn des Musiktrainings vor dem 10. Lebensjahr. Nur

Weitere Kostenlose Bücher