Macht: Thriller (German Edition)
ihre beiden Fußspitzen nach innen verdreht waren, Hilflosigkeit signalisierten und »Bitte, hilf mir, ich bin doch so wehrlos!« brüllten. Josephine wusste es, sie hasste die Körpersprache der jungen Dinger. Wie anders, wie selbstbewusst waren sie in den Neunzigern und den Nullerjahren aufgetreten. Die Bücher der feministischen Anthropologie und der Women of Colour unterm Kopfkissen hätten sie am liebsten alles, was nach Machismo, Rüschen und Hello Kitty gerochen hat, mit ihren Doc Martens -Schnürstiefeln zertreten.
Das Mädchen mit den gezupften Augenbrauen fixierte ihre Unterlagen und schob Josephine die mehrfarbige Excel-Tabelle mit ihrem Stundenplan hinüber. Sie hatte bereits die Art zu greifen perfektioniert, bei der nur die Fingerkuppen und nicht die Nägel mit dem Berührten in Kontakt kamen. »Nach Bachelor-Studienordnung muss ich aber drei Seminare in diesem Semester machen.«
»So ist es.« Josephine verschränkte die Arme vor der Brust, versteckte ihre Hände in den Achselhöhlen und schlug die Beine übereinander. »Ich habe, während meines Magisterstudiums, manchmal fünf oder sechs in einem Semester gemacht, und dazu noch zwei Nebenfächer.«
»Das war auch eine gaaanz andere Zeit!« Das Mädchen stand auf, verabschiedete sich und ging.
So scheißalt bin ich also für dich, dachte Josephine und lachte auf. Sie war im Moment viel zu perplex, um eine passende Antwort zu formulieren. Josephine lag auf der Zunge, dem Mädchen zu erläutern, wie sie in ihrem Alter neben den Semesterscheinen am Tag die Sekretärin für eine Versicherung und in der Nacht die Bierzapferin in einer Rockerkneipe gemacht hatte. Ohne Zeit und Geld für Shoppen, Fitnessstudio und Maniküre. Aber da war die Hübsche auch schon draußen, und Josephine amüsiert, für eine Drittsemestrige so etwas wie ein Diplodocus oder Panzerfisch zu sein. Ein Fossil, das zu den anderen alten Knochen ins Senckenberg-Museum gehörte. Gelegentlich sollte man es mal abstauben, aber im Grunde konnte man es getrost vergessen, weil sich seine biologische Nische für immer geschlossen hatte.
Aber wer weiß, Josephine wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, vielleicht hatte das Mädchen ja recht, und sie wurde alt, mutierte zu einer der teutonischen Trutschen, denen besondere Bärbeißigkeit nachgesagt wurde und die keinen Ehemann abkriegten. Und vor zehn Jahren war eine gaaanz andere Zeit.
Gabriel Fuchs’ Frage nach den Totenkopfringen hatte Josephine über alldem wieder vergessen.
2
Wien, 3. Oktober 2012
I n Wien begann die Blaue Stunde. Vor der evangelischen Christuskirche am Matzleinsdorfer Platz warteten Menschen in legerer Abendkleidung auf Einlass. Einige rauchten, andere unterhielten sich. Alle freuten sich auf das Konzert der Mittwochabendmusik.
Die Fenster der Friedhofskirche im byzantinischen Stil waren hell erleuchtet. Die rot-gelb gestreifte Ziegelfassade reflektierte die Straßenbeleuchtung, dass der Bau vor dem Kobaltblau des Himmels scheinbar glühte. Die Spitzen der Kuppel und der Terrakotta-Türmchen an den Dachtraufen verloren sich in der Dunkelheit. Grablichter tanzten in den Laternen, und der Wind rauschte in den hundertjährigen Eiben. Auf den beiden mehrspurigen Straßen außerhalb der Friedhofsmauern summte der Abendverkehr vorbei. Um diese Uhrzeit war es in Wien nur auf einem Friedhof so still, und die Gesellschaft genoss die Ruhe auf dieser Insel des Friedens inmitten der Großstadt.
Pfarrer Fuchs schüttelte viele Hände. Die Stimmung wirkte gelöst, die Gäste waren guter Dinge. Das hob auch seine Laune. Er war stolz, am »Tag der deutschen Einheit« ein Kammerensemble aus Leipzig für seinen Konzertabend gewonnen zu haben. Es hatte Fuchs viel Charme und Überredungskunst gekostet, die Musiker an diesem Abend von attraktiven Engagements daheim weg- und hierherzu locken. Aber so ein Event brachte Publikum in seine Kirche. Anders als seine katholischen Kollegen brauchte er jeden Cent an Einnahmen und Spenden für das Budget seiner Gemeinde.
Gabriel Fuchs, du bist ein richtiger Schlawiner, schmunzelte er und drückte der Bezirksvorsteherin die Hand. Siehe da, auch die Kommunalpolitik gab sich bei so einer Gelegenheit ein Stelldichein mit der religiösen Minderheit. Verlief der Abend gut, spekulierte der Pastor, konnte seine Pfarrgemeinde ein weiteres Jahr mit Bezirksförderungen rechnen.
Die blondierte, etwas rundliche Politikerin machte ein verbindliches Gesicht und legte ihre Linke auf die Hand des Pfarrers.
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