Macht: Thriller (German Edition)

antwortete Thorpe.
    »Hunde, Katzen, das klingt, als wären wir ein verdammter Zoo!« Szombathy leckte sich die Lippen und fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Ich für meinen Teil bevorzuge die Bezeichnung Homo sapiens.«
    »Homo sapiens!« Ian kicherte und zog amüsiert die Brauen hoch. »Der Verständige Mensch . Was › verstehst ‹ du denn, bitte? Der Speziesname, den wir uns gegeben haben, ist Denkmal unserer Arroganz.«
    »Ich verstehe, dass ich der Typ mit der Puffen bin, und dass meine Nerven blank liegen!« Gernot schmatzte mit der Wange. »Ich brauch nur zu zucken, und du hast dein drittes Auge. Und ich meine nicht das Ajna-Chakra .«
    »Respekt! Aber wenn du hier noch länger mit einer Neunmillimeter vor meiner Nase herumwedelst, mein Freund, ruft einer der Herrschaften dort drüben die Polizei.« Thorpe deutete mit dem Kopf auf eine Gruppe Passanten, die rasch näher kamen. »Steck das Ding ein, bitte. Dog don’t eat dog , ich stehe zu meinem Wort.«
    Szombathy linste zu den Nachtschwärmern. Nicht mehr lange, bis sie nahe genug herangekommen waren, um zu erkennen, was er in der Hand hielt. Gernot wirbelte die Pistole um den Finger und steckte sie in den Hosenbund. Er lachte und ging mit ausgebreiteten Armen auf Ian zu. »Kein Scheiß, Ian, oder ich brech dir das Genick!«, zischte er durch die Zähne.
    » Same to you! «, lachte Thorpe und klopfte Gernot fröhlich auf den Rücken. »Mein Boss hat mich hergeschickt. Und ich soll dich von Ernstel grüßen.« Ian lächelte, diesmal jedoch ehrlich gemeint. »Ich soll dich und Mahler warnen. Dreht Kernreiter nicht den Rücken zu und lasst das Mädchen niemals alleine! Ist jetzt Josephine bei ihr?«
    Szombathy nickte. »Ist Lilly in Gefahr?« Eine Ahnung schnürte ihm die Luft ab.
    »Gehen wir ein Stück.« Thorpe marschierte los und hakte sich bei Szombathy unter. Die Anzugträger flankierten die Spaziergänger, die Hände in den Jacketts.
    »Du musst wissen, ich bin als Kind genau wie sie gewesen. Lilly und ich sind Savants. Menschen mit Inselbegabungen. Ich rechne so schnell und exakt wie ein Computer und habe keine Probleme damit, mir in kürzester Zeit komplexe Sprachen anzueignen. Darum komme ich so viel herum.« Er konnte den Stolz auf seine Fähigkeiten nur schlecht verschleiern. »Es gibt weltweit nur etwa hundert von uns. Fünfzig Prozent sind Autisten, die restlichen fünfzig Prozent haben zum Teil schwere Hirnschädigungen.«
    Gernot betrachtete Thorpe und war ziemlich beeindruckt, vielleicht auch eingeschüchtert. »Wie kommt es, dass du so › normal ‹ wirkst? – Entschuldige, ich wollte nicht …«
    »Ist schon OK. – Ich habe es dank jahrelangem Training geschafft, alle Verhaltensregeln, die das soziale Miteinander bestimmen, und die ihr teilweise instinktiv beherrscht, zu entschlüsseln und mir anzueignen.« Thorpe blieb stehen und sah Szombathy mit ernster Miene an. »Viele haben da weniger Glück. Obwohl, oder gerade weil sie Genies sind. Der Brite Daniel Tammet rechnet, schreibt Bücher und erlernt mühelos Sprachen. Dem geht’s gut, er lebt in einer Beziehung. Stephen Wiltshire zeichnet detailgetreu riesige Panoramen von Landschaften, die er nur ein einziges Mal betrachtet hat. Aber je intensiver sein Sozialkontakt wird, desto fehleranfälliger werden seine Bilder. Der sechzehnjährige Jazz-Musiker Matt Savage hat sich über Nacht Klavierspielen beigebracht. Der blinde Leslie Lemke spielt hochkomplizierte Stücke nach einmal Hören fehlerfrei. Andere können den Wochentag zu jedem beliebigen Datum nennen. Der berühmteste von uns ist aber Kim Peek, ein Mega-Savant, der nach eigenen Angaben den Inhalt von sage und schreibe zwölftausend Büchern parat hat. Peek benötigt acht Sekunden, um die gelesenen Seiten eines Buches zu speichern. Er hat Jahreszahlen, Melodien, den Kalender, alle Telefonvorwahlen der USA, die Straßennetze aller US-Bundesstaaten und das komplette Fernsehprogramm im Gedächtnis. Aber er ist nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen.«
    »Und woher habt ihr diese Fähigkeiten?« Szombathy kam sich mehr und mehr wie das Karnickel vor der Schlange vor.
    »Die meisten Inselbegabungen sind von Geburt an vorhanden. Aber es gibt Ausnahmen. Daniel Tammet entwickelte seine besonderen Fähigkeiten nach einem schweren epileptischen Anfall im Kleinkindalter. Orlando Serrell wurde als Zehnjähriger von einem Baseball am Kopf getroffen und erinnert sich seither an jedes einzelne Detail seines Lebens. Er ist gerade