Machtkampf
ihre Gefühle und Ängste sprechen konnte. Zwar traf sie gelegentlich mit Arnold, ihrem Ex-Mann, zusammen, doch ging es dabei nur um die Folgen ihrer Scheidung und um ihre intimsten Themen, die sie allerdings auch mit Linda nicht diskutieren konnte.
Sie stießen mit den wieder gefüllten Gläsern an. »Was glaubst du, wie gerne auch ich einmal allein verreisen würde«, sagte Linda plötzlich. »Es müsste gar nicht so weit sein. Nur mal Mallorca oder die Kanaren.«
»Warum nimmt dich Heiko nicht mit?«
»Wer soll dann den Hof hier am Laufen halten? Nein, zu zweit verreisen – das geht einfach nicht.«
»Und du allein?« Sandra hätte am liebsten vorgeschlagen, sie dabei zu begleiten. Aber ihre Finanzen ließen dies nicht zu – und Manuel gleich gar nicht.
»Vielleicht fehlt mir einfach der Mut dazu«, erwiderte Linda, die ihrem Wunsch ohnehin keine Chance einräumte. »Ich war noch nie richtig allein unterwegs.« Sie lächelte zwar, doch ihre Augen verrieten Wehmut. »Ich würde mich vermutlich schon am Flughafen nicht zurechtfinden.«
Sandra konnte dies nachempfinden. Ihr würde es genauso ergehen. Von Stunde zu Stunde spürte sie, dass sie beide Gefangene waren – aber in unterschiedlichen Gefängnissen. Obwohl sich Linda sicher viele Wünsche erfüllen könnte, waren ihr die Hände ebenso gebunden wie ihr.
Vielleicht war es der Wein, der in Sandra den Gedanken formte, einfach alles hinter sich zu lassen und zu verschwinden. Gemeinsam mit Linda. Ein neues Leben anfangen. Irgendwo auf der Welt. Aber, Achtung, mahnte eine innere Stimme, was wäre dann mit Manuel? Und womit würde sie so ein Abenteuer finanzieren? Und was geschähe, ginge alles schief? Man konnte nicht einfach abhauen. Man war in dieses Leben hineingeboren – und daraus gab es kein Entfliehen, schon gar nicht für die Kleinen. Es sei denn, man stieg aus allen sozialen Netzen aus und verzichtete auf die Absicherungen, mochten sie noch so bescheiden sein. Sandra hätte es am liebsten laut hinausgeschrien, dass sie frei sein wollte. Frei. Denn obwohl sie keiner in Ketten gelegt hatte, fühlte sie sich in einem Kerker.
Die Zeiger der Pendeluhr, die noch von Heikos Großvater stammte, tickten sich langsam auf 0.30 Uhr vor, als plötzlich ein heulendes Geräusch den Raum erfüllte. Es schwoll drohend an – und es kam von draußen. Die beiden Frauen unterbrachen ihren Redefluss und sahen sich erschrocken an.
14
Der Notruf war in der Göppinger Leitstelle der Rettungskräfte exakt um 0.28 Uhr eingegangen. Ein Anrufer aus Rimmelbach hatte gemeldet, dass der Dachstuhl eines alten Bauernhauses in Flammen stehe. Der Mann in der Leitstelle löste augenblicklich Feueralarm aus, was zur Folge hatte, dass nicht nur bei den Feuerwehrleuten in Rimmelbach die Funkmeldeempfänger piepsten, sondern sowohl dort als auch in den umliegenden kleinen Gemeinden die Sirenen heulten. Dies war trotz aller Elektronik auf dem Lande noch üblich, zumal in diesem topografisch problematischen Gelände der Funkempfang nicht überall gewährleistet war.
Angesichts des geschilderten Ausmaßes des Brandes wurde sofort auch ›Überlandhilfe‹ aus Böhmenkirch und der nahen Stadt Geislingen angefordert.
Innerhalb weniger Minuten trafen die Rimmelbacher Einsatzkräfte als Erste am Brandort ein, wo die Flammen aus dem Dachstuhl loderten und die Funken wie kleine Raketen in den Nachthimmel schossen. Dachziegel zerplatzten, dunkler Qualm entkam dem Schein des Feuers und verlor sich in der Dunkelheit. Blaulichter zuckten, aus allen Richtungen näherten sich die Sirenen weiterer Einsatzfahrzeuge. Schläuche wurden ausgerollt und blitzschnell zusammengesteckt, die Anschlüsse an geöffneten Hydrantenschächten verschraubt. Gleich zischten mehrere dicke Wasserbündel in die Feuerbrunst des einstöckigen Gebäudes. Doch schon hatten die Flammen auch auf das Erdgeschoss übergegriffen, wo Fensterscheiben barsten und schwarzer Rauch ins Freie quoll. Währenddessen machte sich ein Trupp von Männern mit Atemschutzgeräten einsatzbereit. Gleichzeitig rammten andere Männer die alte Haustür ein, um sich Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Augenblicklich wurden sie von einer weiteren Rauchwolke eingehüllt.
Während nacheinander Einsatzfahrzeuge eintrafen, darunter die Rettungswagen des Roten Kreuzes, stürzte ein Teil des Daches ein und verursachte einen höllischen Funkenflug. Das Feuer, so schien es, ließ sich von den Wassermassen, die auf das rot glosende Gebälk
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