Machtkampf
schon.«
»Heiko ist in Wirklichkeit gar nicht so, wie er sich nach außen hin gibt«, beruhigte Linda. »Ein Dickschädel eben. Harte Schale, weicher Kern.«
Sandra wollte nichts dazu sagen. Denn obwohl sie sich mit Linda gut verstand, gab es doch etwas, das unausgesprochen zwischen ihnen stand. Sandra hatte oft schon darüber nachgegrübelt, ob auch Linda dies so empfand. Aber darüber reden, einfach frei von der Leber weg, das konnte sie beim besten Willen nicht.
»Ich weiß«, sagte sie stattdessen. »Dass mir dein Mann damals die Möglichkeit gegeben hat, hier zu arbeiten und in eurem kleinen Haus zu wohnen, hat mir in dieser schweren Zeit wirklich sehr geholfen.«
»Und auch dein Manuel wird älter«, munterte Linda ihre Besucherin auf, »immerhin geht er jetzt schon zur Schule.«
Sandra trank einen Schluck Tee und spürte, dass er wohltuend ihre innere Kälte vertrieb. »Manuel ist ein Sorgenkind«, gestand sie dann. »Jetzt haben sie mir sogar noch das Jugendamt auf den Hals gehetzt.«
»Wegen der Sache mit dem Pfarrer?«
»Vermutlich ja. So ein Schnösel vom Göppinger Jugendamt war hier und hat mir vorgeworfen, es bestehe der Verdacht, Manuel sei verwahrlost. Stell dir das mal vor! Verwahrlost! Wo ich mich, so gut es geht, um ihn kümmere. Aber ich kann ja nicht ständig neben ihm sitzen.«
Linda rief sich in Erinnerung, wie Sandras Wohnung ausgesehen hatte, als sie zuletzt dort gewesen war. Damals, vor einem halben Jahr, hätte Manuel noch in den Kindergarten gehen sollen, hatte sich aber vehement dagegen gesträubt und stattdessen daheim fast täglich ein heilloses Chaos angerichtet.
»Manuel ist sicher kein einfaches Kind«, meinte Linda deshalb diplomatisch. »Vor allem, weil er keine Freunde hat und sich nur mit sich selbst beschäftigt.«
Sandra nickte betrübt. »Er ist halt in sich gekehrt und spielt gern am Computer.«
Linda spürte Sandras Bedürfnis, dieses Thema zu vertiefen. Allerdings schien sie die Beschuldigung des Pfarrers dabei aussparen zu wollen.
Als Linda nach dem Tee eine Flasche Wein entkorkte und mit zwei Gläsern aus der Küche zurückkam, lächelte sie ihrer Besucherin zu: »Jetzt machen wir’s uns richtig gemütlich.« Sie goss den Wein ein und prostete Sandra zu: »Auf uns beide.«
»Danke«, erwiderte Sandra, nachdem sie das Glas zurückgestellt hatte. »Ich hab mich schon lange nicht mehr so entspannt gefühlt wie heute Abend.«
Ihr Gespräch über Kindererziehung zog immer weitere Kreise. Linda versuchte dabei, dezent ihre Ansichten und Erfahrungen einzubringen, zumal sie die Ältere war und bereits einen erwachsenen Sohn hatte. Allerdings war auch in dessen Erziehung einiges schiefgelaufen. Sonst hätte er sich nicht gänzlich von den Eltern abgewandt und sich sogar geweigert, mit dem Vater zusammen den Bauernhof zu führen. Heiko und Timo hatten sich eben sehr weit auseinandergelebt. Heiko, der willensstarke Übervater, hatte seinem Sohn nie eine Chance gegeben, seine eigene Persönlichkeit zu entfalten.
Bei Sandra schien das gerade umgekehrt zu sein. Der kleine Manuel, dessen Persönlichkeit sich noch gar nicht entwickelt hatte, terrorisierte seine Mutter, die viel zu schwach war, auf pädagogische und einfühlsame Weise auf ihn einzuwirken. Wenn sich bei Manuel nicht schnell etwas änderte, würde dies verheerende Folgen für sein weiteres Leben haben. Linda überlegte, wie sie es ausdrücken sollte, ohne Sandra vor den Kopf zu stoßen. Vielleicht würde sich im Lauf des späteren Abends noch eine Gelegenheit dazu bieten, wenn der Wein sie beide redseliger gemacht hatte.
Die Stunden zogen dahin und die Frauenthemen gingen nahtlos ineinander über. Von der Kindererziehung zur Landwirtschaft, von der Landwirtschaft zum Kochen, vom Kochen zu Krankheiten. Irgendwann, es war bereits lange nach Mitternacht und die Rotweinflasche nahezu leer, bemerkte Linda beiläufig: »Heiko wird sich jetzt an irgendeiner Bar auf Teneriffa vergnügen.«
Linda spürte, wie ihr der Alkohol zugesetzt hatte, weshalb sie gleich gar nicht den Versuch unternahm, die Zeitdifferenz zwischen Deutschland und den Kanaren zu berechnen – abgesehen davon, dass sie auch gar nicht wusste, wie viele Stunden man hinzurechnen oder abziehen musste.
»Ich hol uns noch ein Gläschen«, entschied Linda, die sich inzwischen leicht beschwipst fühlte und diesen Zustand genoss.
Sandra ließ sie gewähren, denn sie spürte, dass ihr diese Gespräche guttaten. Sie hatte niemanden, mit dem sie über
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