Machtkampf
allen Seiten beobachtet. Deshalb hatte er auch entschieden, den knappen Kilometer bis zur Grundschule heute zu fahren. Er wollte sich keinem Spießrutenlauf ausgesetzt fühlen. Das würde ihm noch früh genug drohen.
Noch allerdings, so sagte ihm die Vernunft, konnte niemand wissen, was ihm gestern bei der Kriminalpolizei eröffnet worden war. Es sei denn, die Kowick hatte es nicht bei der Anzeige belassen, sondern auch gleich die Schulleiterin und den Bürgermeister verständigt – oder gar den stellvertretenden Vorsitzenden des Kirchengemeinderats, den Heiko Mompach, den die meisten im Ort ohnehin als den uneingeschränkten Herrscher betrachteten. Allein der Gedanke an ihn löste in Kuglers Magen eine neuerliche Verkrampfung aus.
Zwar hatte sich Mompach damit abgefunden, dass es nicht gelungen war, den Kirchengemeinderat mehrheitlich gegen den neuen Pfarrer zu mobilisieren. Aber ganz so leicht, wie es sich Kugler erhofft hatte, waren die Wogen nach seiner ziemlich freudlosen Amtseinsetzung nicht zu glätten gewesen – obwohl er noch immer alles daran setzte, das vergiftete Klima zu verbessern.
Der Streit um die Besetzung der Pfarrerstelle hatte in dem kleinen Ort tiefe Gräben aufgerissen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Mompach ihm gegenüber Loyalität vortäuschte und so tat, als sei nichts gewesen.
Die Zusammenarbeit in dem kirchlichen Gremium war keinesfalls von jener christlichen Nächstenliebe geprägt, wie sie gerade unter Kirchenfunktionären zu erwarten gewesen wäre.
Kugler war sich bewusst, dass Mompach nur darauf lauerte, ihm eine Verfehlung anhängen zu können. Würde dieser Mann von den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen erfahren, käme dies einer Katastrophe gleich.
Kugler hatte gleich nach dem Frühstück ein Rechtsanwaltsbüro in Geislingen angerufen, den Sachverhalt kurz geschildert und für den späten Nachmittag einen Termin erhalten.
Jetzt parkte er den Mercedes auf den ausgewiesenen Stellplätzen vor der Schule und nahm sich beim Aussteigen vor, so selbstbewusst wie möglich aufzutreten.
Zufrieden stellte er beim Betreten des bunt bemalten Schulgebäudes fest, dass jetzt, vor der zweiten Unterrichtsstunde, fröhliches Treiben herrschte. Es schien ein Tag zu sein wie jeder andere. Und so wie er es überblicken konnte, waren die meisten Kinder gekommen. Nur Manuel würde nicht da sein. Der musste heute Vormittag bei einem Kinderpsychologen das Schreckliche wiederholen, was seine Mutter bei der Polizei zu Protokoll gegeben hatte.
Mein Leben hängt an der Fantasie eines Sechsjährigen, schoss es Kugler durch den Kopf, als er schneller als gewohnt dem Klassenzimmer entgegenstrebte, in dem der Religionsunterricht der Drittklässler stattfand. Das waren die Achtjährigen, die erfahrungsgemäß keinen allzu großen Kontakt zu den sogenannten Abc-Schützen hatten, die erst vor einem Monat eingeschult worden waren und zu denen auch Manuel gehörte.
Kugler lächelte den fröhlichen Kindern auf dem Flur zu und wollte sich gerade der Tür zum Klassenzimmer zuwenden, als er die energischen Schritte der Schulleiterin vernahm. Er drehte sich um und sah die attraktive Pädagogin, eine Mittdreißigerin, die bei den Kindern äußerst beliebt war, auf sich zukommen. Sie wirkte jugendlich und ihre positive Ausstrahlung sprang sofort auf ihre Gesprächspartner über. »Herr Kugler, guten Morgen«, begrüßte sie ihn. Es war wie ein Stich in sein Herz. Trotzdem bemühte er sich, die innere Unruhe zu verbergen. »Guten Morgen, Frau Stenzel«, lächelte er.
»Darf ich Sie noch schnell was fragen?« Kugler spürte, wie das Entsetzen sich seines ganzen Körpers bemächtigte. Etwas fragen, hallte es in ihm nach. Jetzt war es so weit.
»Ja, bitte«, presste er mühsam aus der trockenen Kehle hervor. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er sich durch den freundlichen Klang von Stenzels Stimme beruhigt gefühlt. Außerdem hätte sie ihn bei einem so schweren Vergehen, wie es ihm vorgeworfen wurde, gewiss nicht auf dem Flur angesprochen, mahnte ihn die innere Stimme.
»Geht’s Ihnen nicht gut?«, fragte die Schulleiterin plötzlich und sah ihn verwundert an. »Sie sehen heute nicht sonderlich gut aus.«
»Doch, doch, danke«, beeilte er sich zu sagen. »Ich hab nur ein bisschen schlecht geschlafen.« Er holte tief Luft und erkundigte sich höflich: »Was wollten Sie mich fragen?«
Sie nahm ihn beiseite, um aus der Hörweite der Kinder zu gelangen. »Stimmt das mit dem Hartmann?«
Kugler
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