Machtkampf
war es, als fiele ihm eine zentnerschwere Last von den Schultern. »Hartmann?«, wiederholte er, um seine wild herumrasenden Gedanken ordnen zu können. »Hartmann, ja, er hat sich wohl gestern Nachmittag das Leben genommen.«
»Ach«, flüsterte Frau Stenzel. »Dann stimmt es also doch.«
»Aber mehr kann ich dazu leider nicht sagen«, legte Kugler mit bedeckter Stimme nach und überlegte, weshalb sich die Schulleiterin für Hartmanns Schicksal interessierte.
»Es soll Selbstmord gewesen sein?« Ihre Stimme wurde noch eine Nuance leiser.
»So heißt es, ja«, nickte der Theologe.
»Schon wieder einer – und das in diesem kleinen Dörfchen hier.« Sie sah ihn mit versteinertem Gesicht an. »Wie verzweifelt müssen Menschen sein, die so etwas tun? Und meistens bemerken nicht mal die nächsten Angehörigen etwas davon. Ist das nicht furchtbar?«
Kugler spürte zum ersten Mal in seinem Leben, dass er nicht mehr die Kraft haben würde, anderen in solchen Situationen Trost zuzusprechen. Wie schlimm würde erst alles sein, wenn herauskam, was ihm vorgeworfen wurde? Er verabschiedete sich von der Schulleiterin und ging in das Klassenzimmer. Bald würde er ihr in eigener Sache gegenüberstehen. Oder wäre es besser gewesen, gleich jetzt alles anzusprechen?
Nein, dazu war er schon viel zu schwach.
3
Der Herbstnebel hatte sich inzwischen verzogen, als Lokaljournalist Sander und sein Fotograf Homsheimer in Rimmelbach eingetroffen waren. Sander bedauerte, dass es noch zu früh war, um das örtliche Gasthaus aufzusuchen. Solche Lokale erwiesen sich nämlich meist als gute Informationsquelle, vorausgesetzt, der Wirt zeigte sich gesprächig. Jetzt aber entschied sich der Journalist für den Bürgermeister, mit dem er seit Jahren viele berufliche Kontakte hatte. Hugo Benninger, so hieß er, war bodenständig und mit den Problemen seiner Bürger bestens vertraut. Er öffnete den Besuchern persönlich die noch verschlossene schwere Rathaustür, denn eine Sekretärin gab’s nur zweimal in der Woche – und dann auch nur nachmittags.
»Die Presse«, frotzelte er, schüttelte den beiden die Hände und verzog sein braun gebranntes Gesicht zu einem breiten Lächeln. »Hab ich mir fast gedacht, dass Sie irgendwann auftauchen werden. Kommen Sie rein.« Er ließ die Medienvertreter ins Innere, schloss die Tür und ging voraus über eine knarrende Holztreppe nach oben. »Radio 7 hat auch schon angerufen. Und Sat1 will ebenfalls einige Reporter vorbeischicken«, sagte der Mann, der trotz seines fortgeschrittenen Alters wieselflink das Obergeschoss erreichte, wo er die Besucher in sein Büro führte. Sander stieg der Duft nach alten Möbeln und staubigen Akten in die Nase. Beides verband sein Unterbewusstsein mit Bürokratismus und verknöcherten Beamten.
Benninger wollte nicht zu diesem Klischee passen. Er bat den Besuchern Plätze auf Holzstühlen an und ließ sich hinter einem Schreibtisch nieder, auf dem Sander einen Stempelhalter und jenes altertümliche Utensil entdeckte, mit dem auf wichtigen Dokumenten die frische Tinte mit Löschpapier abgetupft wurde.
»Die Polizei hat wohl eine Pressemitteilung versendet«, resümierte der Bürgermeister. »Und irgendjemand hat Wind davon gekriegt, dass eine Jagdwaffe im Spiel war.« Er rückte seine Brille zurecht. »Wenigstens kein Sportschütze. Aber Sie wissen ja, wie das ist, wenn’s um Waffen geht.«
Sander nickte. »Jagd- und Sportwaffen, ich weiß. Ein Reizthema. Aber so, wie es in diesem Fall hier aussieht, hat der Jäger sich ja wohl selbst erschossen.«
»Vermutlich ja«, gab sich Benninger zurückhaltend. »Aber Sie sind sicher darüber informiert, dass die Polizei eine zweite Person sucht, die auch auf dem Hochsitz gewesen sein soll.«
»So ist es«, bestätigte Sander, während Homsheimer damit begann, den Bürgermeister hinterm Schreibtisch zu fotografieren. »Mich würde aber eher interessieren, was man in Rimmelbach allgemein so redet.«
»Klatsch und Tratsch«, antwortete Benninger schnell. »Sie sollten als Journalist wissen, dass man nicht alles für bare Münze nehmen darf, was so g’schwätzt wird.« Er hatte sichtlich Mühe, beim Hochdeutschen zu bleiben, obwohl es in dieser Runde nicht nötig gewesen wäre. »Außerdem«, so fuhr er fort, »wohnte Hartmann drüben in Böhmenkirch. Wir haben nur das Pech, dass dieser Hochsitz auf unserer Gemarkung steht. Wenn Sie also etwas über Hartmann wissen wollen, sollten Sie zum Bürgermeister von Böhmenkirch
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