Machtkampf
schon der zweite innerhalb eines halben Jahres ist.«
»Ach?« Sander hielt inne.
»Einer dieser kleinen Landwirte, die finanziell am Ende waren, hat sich an Karfreitag erhängt«, sagte der Bürgermeister mit bitterem Unterton. »Wir waren alle sehr betroffen.«
»Aber es war einwandfrei Selbstmord?«, hakte Sander nach.
»Die Kripo hat damals nichts anderes feststellen können«, antwortete Benninger.
»Wie hat er denn geheißen?«
Benninger zögerte, entschied aber, den Namen zu nennen, weil ohnehin jeder im Dorf wusste, um wen es sich handelte: »Harald Marquart. Er hat eine völlig verzweifelte Frau hinterlassen.«
Sander notierte sich den Namen.
Igor Popow, den sie in Böhmenkirch alle nur liebevoll ›den Russen‹ nannten, hatte sich sehr gut in die Dorfgemeinschaft integriert. Er war als kleiner Bub mit den deutschstämmigen Eltern als Aussiedler nach Ulm gekommen. Und weil der Vater einen Hilfsarbeiterjob bei Voith in Heidenheim bekommen hatte, ließ sich die Familie auf der Ostalb nieder. Igor durchlief Grund- und Hauptschule mehr schlecht als recht, kam auch hin und wieder mit dem örtlichen Polizeiposten in Konflikt, doch als er mit Hilfe eines Sozialarbeiters aus dem Sumpf seiner zweifelhaften Freunde herausgefunden hatte, schaffte er die Lehre zum Metzger und fand eine feste Anstellung in Heidenheim. Er mietete anfangs in Böhmenkirch, nur etwa 15 Kilometer von seiner Arbeitsstelle entfernt, ein Zimmer und stand jetzt mit seinen 25 Jahren fest auf eigenen Beinen.
Denn er war beim vorletzten Gemeindefest mit Max Hartmann zusammengetroffen. Der Viehhändler, der im Dorf hohes Ansehen genoss, hatte ihn zu später Stunde am Bierstand angesprochen und ihn nach seiner beruflichen Tätigkeit gefragt. Vermutlich war Hartmann längst darüber informiert gewesen, dass Igor an seiner Arbeitsstelle als tüchtiger Metzger galt. Jedenfalls hatte ihm Hartmann noch an diesem Abend eine lukrative Tätigkeit in Aussicht gestellt und ihn deshalb für einen der folgenden Abende zu sich eingeladen. Dabei unterhielten sie sich über den Beruf des Metzgers und über die Probleme der Viehzucht, die sich mit all den Vorschriften und bürokratischen Hürden nach Rinderwahn und Schweinegrippe immer schwieriger gestaltete. Hartmann staunte über das fundierte Wissen, das sich der junge Mann zu dieser komplexen Materie bereits angeeignet hatte. Zufrieden stellte er auch fest, dass Igor nicht dem abstoßenden Slang der türkisch-russischen Jugendszene verfallen war, sondern nahezu akzentfreies Hochdeutsch sprach, gespickt sogar mit schwäbischen Worten und Formulierungen.
Hartmann offenbarte während des damaligen Gesprächs, dass er seine geschäftlichen Aktivitäten nicht nur auf die EU beschränken, sondern auch in Richtung Russland ausweiten wolle. Igors Sprachkenntnisse kamen ihm deshalb sehr entgegen. Hartmann hatte zwar längst seine Fühler nach Moskau und in die Ukraine ausgestreckt, aber ohne Sprachkenntnisse gestaltete sich dies äußerst schwierig. Die Verhandlungen in Englisch erschienen ihm viel zu gewagt, zumal er genügend Geschichten über deutsche Unternehmer kannte, die mit ihren osteuropäischen Engagements Schiffbruch erlitten hatten. Obwohl sich ein solcher Fall bereits vor ziemlich genau 24 Jahren ereignet hatte, wurde noch heute in einschlägigen Kreisen darüber geredet: Damals, kurz vor der politischen Wende in Deutschland, war ein Göppinger Unternehmer mit der Idee nach Leningrad gegangen, eine schwäbische Brezelstube zu eröffnen. Bei der pompösen Eröffnungsfeier, die drei Tage vor dem Fall der Berliner Mauer stattfand und an der auch eine Brauerei aus dem Schwarzwald beteiligt war, sollen sogar hohe politische Würdenträger anwesend gewesen sein, wurde erzählt. Es hieß, der spätere Präsident Wladimir Putin, der aus Leningrad stammt und dort zwei Jahre später Vizebürgermeister wurde, habe sich unter den zahlreich angereisten Gästen befunden. Ob dies stimmte, vermochte später niemand mehr zu sagen.
Doch aus der anfänglichen Euphorie entwickelte sich für den Göppinger Unternehmer ein Desaster: Er hatte sich wohl in vielem verrechnet, möglicherweise aber insbesondere die Ehrlichkeit vermeintlich treuer russischer Geschäftsfreunde und vielleicht auch der Damenwelt überschätzt. Letztlich, so war Hartmann mehrfach erzählt worden, habe der inzwischen verstorbene Geschäftsmann froh sein können, damals nur sein Geld und nicht auch sein Leben verloren zu haben. Andere, die
Weitere Kostenlose Bücher