Machtkampf
Erinnerung, auch wenn dies alles schon sieben oder acht Jahre zurücklag. Immerhin kannte er die Diensträume und wusste, dass sich die Kriminalpolizei in einem Backstein-Nebengebäude befand. Nachdem er sich vorgestellt hatte, führte ihn die Dame am Empfang zu Häberle, der sich in einem ansonsten unbenutzten Büro niedergelassen hatte – wie immer, wenn er in Geislingen zu tun hatte. Als er Igor die Hand schüttelte, musste er sich von dem Klischee befreien, das sich in ihm angesichts dienstlicher Begegnungen mit russischstämmigen Menschen geformt hatte. Vor ihm stand ein höflicher junger Mann mit guten Umgangsformen. Häberle bot ihm einen Platz an und erklärte kurz, aber wohldosiert, dass Max Hartmann gestern Abend »zu Tode« gekommen sei. Bei dieser Nachricht versteinerte sich Igors Gesicht. Er schluckte und starrte betroffen auf die Tischplatte. »Max ist tot?«, fragte er nach ein paar Sekunden des Schweigens nach, als könne er dies alles nicht begreifen. »Tot? Kein Zweifel?«
»Kein Zweifel«, bestätigte Häberle und behielt sein Gegenüber im Auge. Der erfahrene Kriminalist wusste, dass aus den Emotionen, die in solchen Momenten hervorbrachen, oftmals wichtige Rückschlüsse zu ziehen waren.
»Und wie? Ich meine …, wie ist er gestorben?«
»Genau das ist es, weshalb wir Sie um Mitarbeit bitten. Herr Hartmann hat sich vermutlich mit seinem Jagdgewehr erschossen. Auf dem Hochsitz.«
»Selbst erschossen? Auf dem Hochsitz?«, kam es reflexartig zurück.
»Wundert Sie das?«
»Auf dem Hochsitz am Waldrand zwischen Rimmelbach und Böhmenkirch?«, wollte Igor wissen.
»Genau dort. Sie kennen diesen Ort?«
»Ja. Natürlich.« Igor überlegte, was er sagen sollte. »Ich bin gestern Nachmittag auch dort gewesen.«
»Ach«, staunte Häberle, ohne sich die Verwunderung allzu sehr anmerken zu lassen. Ein Kriminalist musste seine persönlichen Emotionen möglichst verbergen. »Gestern Nachmittag? Bei ihm?«
»Ja, bei ihm. Wir haben uns öfters mal dort oben getroffen, um in Ruhe über das Geschäftliche zu reden. Herr Hartmann hat das genossen.«
»Es war demnach üblich, dass er dort oben Besucher empfing?« Häberle hakte gleich nach, obwohl ihn die Uhrzeit, zu der Igor im Hochsitz saß, weitaus mehr interessiert hätte.
»Ich denke schon.« Der junge Mann war blass geworden und zitterte. »Aber wer das außer mir noch gewesen sein könnte, weiß ich natürlich nicht.«
»Wann waren Sie gestern dort?«
»Es war noch vor dem Regen«, sagte Igor spontan und beantwortete damit unbewusst bereits eine Frage, die Häberle als Nächstes gestellt hätte.
»Vor dem Regen«, wiederholte er deshalb ruhig. »Daran erinnern Sie sich noch genau?«
»Ja. Ich bin anschließend heimgefahren und wollte mich auf dem Balkon sonnen.« Häberle glaubte, in Igors Blick etwas Triumphierendes zu erkennen – als ob sich der junge Mann insgeheim freue, ein Alibi vorweisen zu können. »Ich bin vielleicht eine Viertelstunde im Liegestuhl gelegen, da ist das Gewitter losgebrochen.«
»Das müsste dann gegen 16 Uhr gewesen sein«, konstatierte Häberle.
»Ich hab nicht auf die Uhr geschaut.«
»Hm«, machte der Kommissar. »Wie lange waren Sie denn bei Herrn Hartmann auf dem Hochsitz?«
»Ich schätze mal, eine Stunde. Länger nicht.«
»Gab es einen bestimmten Grund für das Treffen?«
»Wir wollten heute Nachmittag nach Moskau fliegen. Geschäftlich. Max hatte neue Geschäftsverbindungen geknüpft. Wir wollten ein paar Tage bleiben und haben drüber geredet, was wir mitnehmen, und er hat mir gesagt, wer die Leute sind, die uns am Flughafen abholen werden.«
»Welcher Art sind diese Geschäfte?« Häberle lehnte sich zurück und überlegte, ob ihm dieser Fall womöglich eine Dienstreise nach Moskau bescheren würde. Ganz so leicht wie innerhalb der EU wäre dies aber vermutlich nicht zu bewerkstelligen.
»Herr Hartmann importiert landwirtschaftliche Produkte«, gab sich Igor bedeckt. »Vieh aus Russland, aber nicht nur nach Deutschland, sondern auch in südosteuropäische Staaten. Er schließt Verträge mit den großen russischen Produzenten und übernimmt die Vermarktung. Nach Details dürfen Sie mich aber nicht fragen, Herr Kommissar. Ich bin meist nur der Dolmetscher und berate Herrn Hartmann in Bezug auf Gepflogenheiten in Russland.« Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. »Wissen Sie, man muss die Mentalität der Menschen in fremden Ländern kennen, dann öffnen sich einem Tür und Tor.«
Häberle
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