Machtkampf
nach seinem Amtsantritt bei ihr gewesen, als er nahezu alle Gemeindemitglieder besucht hatte. Nun versuchte er, sich das Gespräch in Erinnerung zu rufen. Sie hatte ihm anvertraut, wie schlimm ihre kurze Ehe mit Arnold gewesen war. Er habe sie während ihrer Schwangerschaft mit einer 17-Jährigen aus Ulm betrogen. Und als es deswegen nach der Geburt von Manuel zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen sei, hätten sich üble Gewaltszenen abgespielt.
Allerdings hatte Kugler damals den Eindruck gewonnen, Sandra Kowick würde ihm nur die halbe Wahrheit erzählen. Deshalb war er im Zuge seiner Antrittsbesuche auch zu ihrem Ex-Mann Arnold gegangen, der gerade seine Landwirtschaft hatte aufgeben müssen. »Ohne eine Frau, die mithilft, hast du da keine Chance mehr«, klangen dessen bittere Worte noch immer in Kuglers Ohren nach. Dass ihr Mompach gleich einen Job auf dem Hochsträßhof angeboten hatte, empfand Arnold als einen besonders gemeinen Nadelstich. Ausgerechnet Mompach, der seit Jahren mit allen Mitteln versuchte, die kleinen Hofgüter in und um Rimmelbach aufzukaufen oder zu pachten. Ihm hatte Arnold vor knapp einem Jahr die Ländereien verkaufen müssen und sich damit einer Zwangsversteigerung entzogen.
Das Sorgerecht für Sohn Manuel hatte er bereits kurz nach der Geburt kampflos Sandra überlassen. Von der Möglichkeit, das Kind regelmäßig besuchen zu dürfen, machte er zur Verwunderung vieler Dorfbewohner keinen Gebrauch. Er hatte mit dem Kapitel seiner Ehe abgeschlossen und wollte so schnell wie möglich weg von Rimmelbach. Doch jetzt waren schon sechs Jahre vergangen und er hatte den Absprung noch immer nicht geschafft.
Kugler hatte den Eindruck gewonnen, dass sich Arnold der finanziellen Folgen von Scheidung und Unterhaltszahlungen gar nicht bewusst war. Ganz sicher war dies alles schuld am Niedergang des Hofes gewesen.
»Eines Tages werde ich in Kanada oder Neuseeland ganz neu anfangen«, hatte Arnold am Ende des Gesprächs gesagt. Kugler konnte sich jetzt, als er aus seinem Mercedes stieg, noch lebhaft an diese Begegnung erinnern – fast so, als sei sie erst vor wenigen Tagen gewesen.
Er war wie in Trance auf den Wanderparkplatz gefahren, der sich zwischen Langenau und Riedheim an einem Bachlauf befand. Vermutlich ist es die Nau, die hier durch die weite Ebene des Rieds mäandert und ihr Wasser über die Brenz dann bei Lauingen in die Donau ergießt, dachte er und stützte sich mit beiden Händen am Geländer einer idyllischen Brücke ab. Unter ihm strömte das Wasser gemächlich vorbei, ein Entenpärchen ließ sich abwärtstreiben. Die Luft war kühl, der Himmel bedeckt und es roch nach Herbst. Die Natur hatte bereits begonnen, sich auf die kalte Jahreszeit einzustellen.
Vielleicht, so überlegte Kugler, plante Arnold tatsächlich den Absprung, um sich allen Fesseln der Vergangenheit zu entledigen. Denn vermutlich würde er in Deutschland nie wieder finanziell richtig Fuß fassen. Falls es für Wohnhaus und Scheunentrakt einen Käufer gab, der ihm einen einigermaßen vernünftigen Preis bezahlte, konnte er sich tatsächlich irgendwo im fernen Ausland eine neue Existenz aufbauen.
Moralisch ist dies natürlich nicht in Ordnung, dachte Kugler. Wie konnte ein Vater so tun, als ginge ihn sein kleiner Bub nichts an? Noch dazu, wenn beide in ein und demselben Dorf in unmittelbarer Nähe wohnten?
Kugler hatte bei seinem Besuch diese Bedenken anklingen lassen. Aber der junge Mann war dafür nicht empfänglich gewesen. Ihm schien das Wohlergehen des Kindes völlig egal zu sein – eine Einstellung, die Kugler selten auf derart ausgeprägte Weise erlebt hatte.
Aber für Außenstehende war es ohnehin schwierig, sich in Beziehungsprobleme hineinzudenken, bei denen meist intimste Dinge eine Rolle spielten, die auch vor dem Scheidungsrichter nicht bis ins letzte Detail diskutiert wurden – es sei denn, beide Seiten ließen sich auf tiefstes Niveau herab, um schmutzige Wäsche zu waschen.
Kugler löste sich von dem Geländer und folgte dem Fahrweg ins Ried hinaus. Er versuchte, den Gedanken an Arnold und Sandra Kowick zu verdrängen. Aber irgendetwas hinderte ihn daran.
Warum Manuel? Warum gerade der kleine, schüchterne, ja möglicherweise sogar verhaltensgestörte Manuel? Warum musste gerade dieses Kind sein Schicksal besiegeln?
Igor Popow war mit gemischten Gefühlen zur Kriminalaußenstelle nach Geislingen gefahren. Nur zu gut waren ihm die Begegnungen mit Justiz und Jugendamt noch in
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