Machtkampf
einen Tag hinterher«, argumentierte er mit dem Brustton der Überzeugung, ohne an die Online-Ausgabe zu denken, die es neuerdings ermöglichte, aktuelle Ereignisse minutenschnell ins Internet zu stellen. Dafür gab es sogar eine neue Kollegin. Sander jedoch war diese moderne Technologie suspekt und in seinen Augen ein untauglicher Versuch der Zeitungsverleger, vom elektronischen Medienkuchen zu partizipieren. Denn das Online-Angebot gab es kostenlos für jeden, der einen Internetanschluss besaß. Sander, der sich inzwischen selbst als journalistisches ›Auslaufmodell‹ bezeichnete, hatte es im Kollegenkreis einmal so formuliert: »Jetzt haben wir die Kettensäge rausgeholt, um den Ast, auf dem wir sitzen, vollends abzusägen – und zwar ganz schnell.« Auf Zustimmung war er damit aber nicht gestoßen.
Doch daran dachte er jetzt nicht, als er der Radiokollegin vollmundig versicherte, die Zeitungsnachrichten erschienen erst morgen.
»Na ja«, kam es aus dem Hörer zögernd zurück. »So Genaues weiß ich auch noch nicht. Ich hab da nur mal einen Ballon steigen lassen wollen.«
»Und in welche Richtung treibt dein Ballon?« Sander war bereit, sich sofort Notizen zu machen.
»Wir haben gestern einen anonymen Hinweis gekriegt. Aber das muss absolut unter uns bleiben. Kann ich mich wirklich drauf verlassen?«
»Absolut. Im Ernstfall haben wir beide nie in der Sache miteinander gesprochen.«
»Keine Ahnung, woher das kam. Es war nur ein Zettel im Briefkasten. Computerausdruck. Darauf steht, dass sich der Pfarrer von Rimmelbach an einem sechsjährigen Buben sexuell vergangen haben soll. Im Religionsunterricht. Mehr nicht. Keine Details. Nur dieser Hinweis.«
»Und was macht ihr da draus?«
»Vorläufig noch nichts. Erst recherchieren. Aber wir könnten uns ja austauschen, falls dich die Sache auch interessiert.«
Sander war hocherfreut über diesen Vorschlag, mit dem er gar nicht gerechnet hatte.
»Wie heißt der Pfarrer denn?«
»Dieter Kugler, evangelisch. Die ›Konkurrenz‹ hat gar keinen.«
»Aber einen Bezug zu diesem Max Hartmann hatte der keinen?«
»Wie gesagt, mehr als diesen anonymen Hinweis habe ich bisher nicht. Wir werden auch heute mit Sicherheit nicht drüber berichten. So eine Sache muss hieb- und stichfest sein, das weißt du. Aber nachdem der Staatsanwalt so schnell ›kein Kommentar‹ gesagt hat, scheint meiner Ansicht nach was an der Sache dran zu sein. Ich hab für so was ein Gespür.«
Sander hatte sich den Namen des Pfarrers aufgeschrieben. »Mir scheint, dass in diesem Rimmelbach manches nicht mit rechten Dingen zugeht.« Er musste an Harald Marquart denken, der offenbar aus Gram über den pleitegegangenen Bauernhof Selbstmord verübt hatte. Doch das wollte er vorläufig für sich behalten.
Dieter Kugler hatte sich während des morgendlichen Religionsunterrichts nur mühsam auf den biblischen Text konzentrieren können, der auf dem Lehrplan stand. Am Ende der Stunde mied er den Kontakt zu den Drittklässlern, packte langsam und umständlich seine Bücher ein und wartete, bis alle Kinder das Klassenzimmer verlassen hatten. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er das Gespräch mit der Rektorin suchen sollte, entschied dann aber, möglichst schnell und unauffällig zu verschwinden. Er brauchte Ruhe und vor allem Zeit zum Nachdenken. Deshalb fuhr er nicht heim, sondern zunächst ziellos über die Schwäbische Alb. Auf der in Richtung Bartholomä führenden Straße rief er seine Frau an, um ihr vorzugaukeln, in Aalen Büromaterial und theologische Lehrbücher einkaufen zu müssen. Doch schon an der Art und Weise, wie er es rausbrachte, überkamen ihn Zweifel, ob sie ihm diese Lüge abnehmen würde. Deshalb fügte er rasch an: »Mach dir keine Sorgen.« Dann beendete er das Gespräch und schaltete sein Handy ganz ab.
Während er seinen Mercedes gemächlich über die Nebenstraßen rollen ließ, entschied er, sich den Nachmittag über in die Abgeschiedenheit des Donauriedes zurückzuziehen. Dorthin hatte es ihn in der Vergangenheit immer wieder gezogen, wenn er über schwierige Entscheidungen nachdenken musste.
Als Langenau erreicht war, hätte er nicht mehr sagen können, welche Strecke er gefahren war. In seinem Kopf regierten Chaos und Panik. Jeglicher Versuch, ein Stoßgebet zu sprechen, scheiterte jämmerlich an fehlender Konzentration.
Er sah in Gedanken den kleinen Manuel und dessen Mutter, der er niemals zugetraut hätte, eine solche Anzeige zu erstatten. Er war gleich
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