Machtkampf
stellte er erleichtert fest, dass dort niemand auf ihn lauerte. Dem Aufatmen folgte aber die sofortige Ernüchterung: Es war tatsächlich jemand da gewesen – jemand, der ein gekipptes Küchenfenster an der gegenüberliegenden Gebäudefront geschickt herausgewuchtet hatte. Kowick blieb beim Anblick des offenen Fensterflügels wie angewurzelt stehen, besah sich die ziemlich abgewirtschaftete Kücheneinrichtung und konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Er ließ die Tür angelehnt und ging die paar Schritte zum Wohnzimmer, wo ihn ein zweiter Schock überfiel: Jemand hatte offenbar in aller Eile nach etwas gesucht. Alle Türchen der dunklen Schrankwand, deren Design an die 70er- Jahre erinnerte, standen weit offen und gaben den Blick auf ganze Reihen von Aktenordnern frei. Schubladen waren herausgezogen, der Inhalt durchwühlt.
Kowick stockte der Atem. Er trat nur zögernd ein, als habe er Angst, dabei beobachtet zu werden. Nachdem sich das lähmende Entsetzen gelegt hatte, stellte er fest, dass das Interesse des Einbrechers offenbar nur dem Inhalt der Schrankwand gegolten hatte.
Kowick warf einen prüfenden Blick auf die anderen Gegenstände im Raum. Doch so, wie es aussah, fehlte nichts. Die Audioanlage war vollständig, der DVD-Rekorder an seinem Platz und auch die kleine digitale Videokamera lag unberührt neben dem Flachbildschirm.
Kowick ging vorsichtig auf die Schrankwand zu und besah sich die Rücken der ordentlich beschrifteten Aktenordner, die alle noch eng zusammengezwängt erschienen.
Dann jedoch stutzte er: In einem der Schrankfächer standen die alphabetisch sortierten Ordner nicht mehr eingeklemmt zwischen den Seitenwänden, sondern ungewöhnlich locker – als ob dort ein dünner fehlte. Kowick las die Aufschriften der anderen, um sich in Erinnerung zu rufen, welcher es war: Die Lücke klaffte zwischen ›Kabelanschluss‹ und ›Kisteneinkauf‹. Eine Schrecksekunde lang starrte er auf diese Reihe, überflog die Beschriftungen, suchte eine Reihe tiefer und eine Reihe drüber, doch dieser dünne Ordner war verschwunden. Sein Blutdruck schoss erneut in die Höhe. Er trat einen Schritt zurück, um nun die Ordner aller sechs Schrankfächer überblicken zu können, in denen er seine Akten, nach Stichworten alphabetisch geordnet, aufbewahrte. Vieles davon brauchte er nicht mehr, seit er die Landwirtschaft aufgegeben hatte, doch musste er den Schriftverkehr und all die Rechnungen und Lieferscheine zumindest so lange aufbewahren, wie es die Finanzbehörden vorschrieben.
Kowick war kreidebleich geworden. Wenn es jemand auf diesen einen Ordner abgesehen hatte, verhieß das nichts Gutes. Noch schlimmer: Unter diesen Umständen war es nicht angeraten, die Polizei zu verständigen.
Heiko Mompach schäumte vor Wut, als sich Häberle und Linkohr vorstellten. »Wenn ich den Sauhund erwische, schlag ich ihm den Schädel ein.«
»Nun mal langsam«, versuchte Häberle, ihn zu besänftigen.
»Was heißt da ›langsam‹?«, äffte ihn Mompach nach und öffnete den obersten Knopf seines blauen Hemdes, um sich Luft zu verschaffen. »Um ein Haar wäre mein Hof abgefackelt worden und Sie sagen, ich soll mal langsam machen.«
Polizeirevierleiter Watzlaff sah ihn verärgert von der Seite an, wobei seine buschigen Augenbrauen besonders grimmig hervortraten. »Seien Sie doch erst mal froh, dass nichts passiert ist. Vielleicht war es ja gar nicht die Absicht, Ihren Hof anzuzünden.«
»Gar nicht Absicht?« Mompachs Gesicht verfärbte sich tiefrot. »Sie glauben doch nicht im Ernst, man könnte eine Kerze in den Heustadel stellen und hinterher sagen: Oh, tut mir leid, das hab ich gar nicht so gewollt.«
»So wie die Kerze aussieht, hätte es noch Stunden gedauert, bis sie niedergebrannt wäre und das Heu entzündet hätte«, konterte Watzlaff. »Da war doch klar, dass bis dahin längst jemand in die Scheune gekommen wäre.«
»Ach, vergessen Sie doch solche Theorien«, wurde Mompach giftig und winkte ab. »Sie haben ja gar keine Ahnung, was hier im Dorf so abgeht. Eine Hexenjagd wäre noch vergleichsweise harmlos.«
»So?«, zeigte sich Häberle interessiert. »Wer jagt denn wen?«
»Ich werde gejagt, Herr Kommissar. Ich. Die Zahl der Neider nimmt zu. Und zwar täglich.«
Linkohr fragte dazwischen: »Aber warum soll dies ausgerechnet jemand mit einer Kerze tun, die vermutlich aus der Kirche stammt?«
»Das sage ich Ihnen gerne: Weil ich im Kirchengemeinderat gegen den neuen Pfarrer gestimmt habe, bin ich hier
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