Machtkampf
die Ungerechtigkeiten in diesem Land zu empören. Die Kleinen wurden überall geknechtet, es wurden stets neue Gemeinheiten ersonnen, den Deckel auf den unteren sozialen Schichten fest draufzuhalten, damit die Chancen minimal waren, dass sie nach oben durchstießen, um in die steuerbegünstigten, subventionsreichen Sphären vorzudringen. Nach Meinung Häberles war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich dieser Deckel nicht mehr halten ließ und wie bei einer gewaltigen Explosion weggeschleudert wurde und unbändige Kräfte freisetzte. So jedenfalls hatte Linkohr die Worte seines Chefs in Erinnerung.
Vanessa bemerkte, dass er in Gedanken abgeschweift war, weshalb sie das Gespräch weiterführte: »Es waren also finanzielle Gründe, die Ihren Mann dazu bewogen haben …«
»So denke ich«, fiel Stefanie Marquart ihr zaghaft ins Wort. »Es war am Tag, nachdem die Zwangsvollstreckung angekündigt wurde.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Die Versteigerung von allem. Von allem, was seine Eltern und Großeltern hier aufgebaut haben.«
Linkohr ließ noch ein paar Sekunden verstreichen. »Ist es nun schon versteigert?«
Stefanie schüttelte den Kopf. Ihre großen blauen Augen waren gerötet. »Beim ersten Termin lagen die Gebote zu niedrig. Aber nun steht ein zweiter an …« Sie schluchzte jetzt hemmungslos. »Dann können sie’s vollends verschleudern. Zu jedem Preis. Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Zu jedem Preis. Und die Banker, die mit Millionen von Steuergeldern unterstützt werden, lassen das einfach zu.«
Vanessa fühlte einen Kloß im Hals. Am liebsten hätte sie diese Frau jetzt in die Arme genommen und getröstet. Selten hatte sie die soziale Kälte derart zu spüren bekommen wie in diesem Moment. Wer die schleichende Verarmung in diesem Land schönredete oder politisch vertuschen wollte, hatte wirklich keine Ahnung, wie es den einfachen Menschen inzwischen erging. Harald Marquarts Selbstmord war in diesem Zusammenhang sicher kein Einzelfall.
»Und was ist nun aus Ihrem Betrieb geworden?«, fragte Linkohr plötzlich und unpassend, wie Vanessa es empfand.
Stefanie knüllte ihr Papiertaschentuch zusammen. »Aufgegeben. Mir gehört doch nichts mehr. Eidesstattliche Versicherung – wenn Sie wissen, was das heißt. Offenbarungseid hat man früher dazu gesagt. Vieh ist weg. Ich jobbe mal hier und mal dort. Aushilfe an der Tankstelle, bedienen – alles nur, um mich einigermaßen über Wasser halten zu können.« Sie weinte. »Und wenn die Versteigerung vorbei ist, wird mich der neue Besitzer rausschmeißen. Dann steh ich da und hab gar nichts mehr. Was mir bleibt, ist dann Hartz IV.« Sie schloss die Augen und schluchzte trostlos. »An später darf ich gar nicht denken. Rente und so.«
Vanessa stand auf und setzte sich zu ihr. »Sie sollten jetzt nicht nur schwarzsehen.« Es waren schwache Worte, gestand sich die junge Polizistin ein und rang nach einer besseren Formulierung, doch sie kämpfte selbst mit den Tränen.
Linkohr räusperte sich. »Hatten Sie denn keine Unterstützung von anderen Bauern am Ort?«
Stefanies Blick haftete an Vanessa. »Unterstützung? Wenn Sie tief unten sind, merken Sie erst, wie weit es noch abwärtsgeht. Der Einzige …«, sie sah jetzt zu Linkohr hinüber und schluckte, »der Einzige, der uns zur Seite gestanden ist, war der Pfarrer. Aber den mögen sie hier ja auch nicht.«
»Der Herr Kugler?«, fragte Linkohr vorsichtig interessiert nach.
»Ja, der«, sagte Stefanie, als habe sie durch den Gedanken an ihn neue Kraft geschöpft. »Der Pfarrer ist ein paarmal bei uns gewesen, damals nach dem Jahreswechsel. Wir sind zwar nicht besonders gläubig, aber er hat uns trotzdem geholfen. Natürlich nicht finanziell …«, ihr Gesicht verzog sich zu einem kurzen Lächeln, »aber moralisch. Er hat die Machenschaften in diesem kleinen Dorf schnell durchschaut, obwohl er damals erst kurze Zeit da war.«
»Welche Machenschaften denn?«
»Dass der Druck auf die Kleinen bis in diese Albkaffs runtergeht. Neid und Missgunst.« Stefanie zuckte mit ihren schmalen Schultern. »Wissen Sie, ich komme auch aus einer ehemaligen Bauernfamilie, aus Söhnstetten drüben. Ich bin in dieser kleinen Welt hier aufgewachsen. Meine Eltern haben den Hof des Großvaters aber schon lange aufgegeben – oder besser gesagt: aufgeben müssen. Das hat sie so getroffen, dass die Ehe zerbrochen ist. Mein Vater ist wenig später gestorben und meine Mutter hat sich danach …« Sie
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