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Machtkampf

Machtkampf

Titel: Machtkampf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Bomm
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einem der Bäume und besah sich das etwa drei Millimeter breite Loch, das sich in Augenhöhe in der Rinde abzeichnete. Ein Projektil, so schien es, steckte nicht darin. Um festzustellen, wie tief dieser dünne Kanal war, brauchte er etwas Dünnes, mit dem er hineinstochern konnte. Vielleicht den Teil eines Zweiges. Er bückte sich und riss von einem der Jungtriebe, die erst im Frühjahr aus dem Erdreich gesprossen waren, ein Stück ab. Noch während er sich wieder aufrichtete, wurde sein Interesse auf einen Gegenstand gerichtet, der nur ein paar Meter von ihm entfernt aus dem laubbedeckten Boden ragte: ein metallisch glänzender, ziemlich dünner Stab.
    Melzinger besah ihn sich zunächst vorsichtig aus der Distanz. Das Objekt erinnerte ihn an eine überdimensionale Stricknadel. Es steckte in flachem Winkel in der Laubschicht. Der Landwirt ging langsam die paar Schritte hinüber und war sich schlagartig sicher: Dieses Objekt passte zu den Löchern in seinen Bäumen.

    Seit dem Umzug nach Halzhausen hatte sich Dieter Kugler nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt. Zwar kümmerten sich Franziska, ihre Schwester und ihr Ehemann rührend um ihn, doch verbrachte er die meiste Zeit in einem kleinen Zimmer im Dachgeschoss und las. Oft jedoch konnte er sich gar nicht auf den Text konzentrieren, weil er sich von Tag zu Tag unnützer fühlte. Seine Lebensfreude, die ihm angeboren erschienen war, war verflogen. Er begann, an sich und seinem Beruf, den er einmal so sehr geliebt hatte, zu zweifeln. Wie konnte der Schöpfer, dessen Diener er war, ihn einfach so im Stich lassen? Warum strafte ihn das Schicksal ab, nur weil er sich für die Schwachen eingesetzt hatte – genau so, wie es doch Jesus’ Willen entsprach?
    Aber auch Jesu hatten sie alle missverstanden und schließlich ans Kreuz genagelt, erinnerte ihn sein Inneres. Kugler sank oft stundenlang in sich zusammen, um in einen Zustand zu verfallen, der eine Mischung aus Meditieren und tiefer Depression war. Nein, er wollte nicht in Selbstmitleid versinken, aber so sehr er auch dagegen ankämpfte, es gab nichts, was ihm aus diesem Stimmungstief heraushelfen konnte. Er wollte mit niemandem mehr reden, hatte sein Handy abgeschaltet und schrieb auch keine E-Mails oder Briefe mehr. Ohnehin wussten nur der Oberkirchenrat und sein Anwalt, wo er sich aufhielt. Dieser wiederum hatte den Umzug seines Mandanten pflichtgemäß der Polizei und der Staatsanwaltschaft mitgeteilt. Es sollte der Eindruck vermieden werden, Kugler sei geflüchtet oder abgetaucht.
    Natürlich hätte er alle Brücken abbrechen und sich mit Franziska zusammen in ein fremdes Land absetzen können. Doch in einer globalisierten Welt würden sie ihn aufspüren, ausliefern und seine Flucht erst recht als Schuldeingeständnis werten. Warum sollte er sich denn davonstehlen? Auf der Flucht sein wie ein Gangster? Gejagt werden wie ein Schwerverbrecher?
    Dass überhaupt solche Gedanken in ihm aufkamen, erschreckte ihn. Aber sollte er diese ganze juristische Tortur über sich ergehen lassen, dazu noch mit völlig unsicherem Ausgang? In schlaflosen Nächten stellte er sich die Richter und Schöffen vor, die über ihn urteilen würden. Dort der kleine Manuel, den sie einfühlsam vernehmen würden – und auf der Anklagebank er, der Pfarrer, der als unbequem galt, dem man womöglich gleich von Anfang an ohnehin alles zutraute. »Kreuziget ihn!«, klang es in seinen Ohren. Sie würden ihn natürlich nicht ans Kreuz schlagen, aber einsperren. Die Kirche würde ihn verstoßen – und er nach Jahren, wenn er als gebrochener Mann wieder in die Freiheit käme, ohne Altersversorgung dastehen. Und Franziska würde vielleicht gar nicht mehr leben. Von Tag zu Tag wurden die Albträume schlimmer. Was machte dies alles noch für einen Sinn? Er saß stundenlang am Fenster und sah apathisch zu einem alten landwirtschaftlichen Anwesen hinüber, das zwischen Stall und Wohngebäude den Blick auf die vorbeirauschenden Züge der Bahnlinie Stuttgart-Ulm freigab. Kugler erkannte sie inzwischen nahezu alle an ihren unterschiedlichen Geräuschen – die ohrenbetäubend laut ratternden Güterzüge, die alten Waggons der Regionalbahn, die leicht dahinrollenden Interregios oder die nur sanft rauschenden modernen, schneeweißen Intercitys.

    Karin Stenzel war widerwillig der Bitte Linkohrs zu einem neuerlichen Gespräch gefolgt. Sie hatte es strikt abgelehnt, den Kriminalisten daheim oder im Schulhaus zu empfangen. Deshalb war sie zur

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