Machtkampf
dachte Melzinger, während er den Stammdurchmesser einer makellosen Buche schätzte. Doch dabei fielen ihm einige Unebenheiten in der glatten Rinde auf, die ihm im nachmittäglichen Licht hell entgegenschimmerte. Melzinger stieg über einige abgebrochene dürre Äste, um den Stamm aus der Nähe betrachten zu können. Er strich mit den Fingern über die merkwürdigen Einkerbungen im Holz und spürte die raue Oberfläche. Erst als er ganz dicht an einen der betroffenen Bäume herantrat und ihn aus allernächster Nähe betrachtete, glaubte er, die Ursache gefunden zu haben: Jemand musste größere Nägel eingeschlagen, sie dann aber wieder herausgezogen haben, sodass nur die Löcher zurückgeblieben waren. Instinktiv sah Melzinger auf den Waldboden, der aber mit seiner üppigen biologischen Vielfalt dem menschlichen Auge keine Chance bot, in diesem wilden Wirrwarr heruntergefallene Nägel zu entdecken.
Melzinger überkam plötzlich eine unbändige Wut. Hatte da jemand einen Anschlag auf seinen Wald unternommen? Eingeschlagene Nägel konnten das wertvolle Holz schädigen und, auf Jahrzehnte gesehen, den Erlös ganz erheblich schmälern. Ganz abgesehen davon, dass diese Löcher im Stamm auch eine Pforte für Pilze und anderen Schädlingsbefall sein konnten.
Melzinger sah sich um. Tatsächlich wiesen alle Stämme, die er von seinem Standort aus überblicken konnte, Wunden dieser Art auf.
Hartmann?, durchzuckte es ihn. Aber wieso sollte ausgerechnet der Jagdpächter diese Bäume schädigen wollen? Zuletzt hatten sie vor drei Jahren miteinander gesprochen, als es um den Bau dieses ungewöhnlich großen Hochsitzes gegangen war. Doch dabei, so entsann sich Melzinger, waren sie sich schnell einig geworden. Hartmann hatte ihm dafür jährlich ein Reh- oder Wildschweinessen zugesichert, das der Wirt des ›Löwen‹ zubereiten sollte.
Mit jedem Schritt, den er nun tiefer in das Waldstück vordrang, steigerte sich sein Unbehagen. Dann jedoch fiel ihm auf, dass die Stämme immer nur auf einer, nämlich der westwärts gewandten Seite geschädigt waren. Er überlegte, was dies zu bedeuten hatte, und weitete seinen Erkundungsgang deshalb nach Westen aus – bis er nach etwa einem halben Dutzend Baumreihen nur noch unversehrte Rinden vorfand. Dort blieb er stehen, um aus dieser Entfernung die schadhaften Stämme ins Visier zu nehmen. Sie alle, so stellte er fest, befanden sich von seinem Standort aus innerhalb eines Sichtwinkels, den er auf 45 Grad schätzte.
Melzinger war sogar davon überzeugt, dass von hier aus kein einziger betroffener Baum durch einen anderen verdeckt wurde.
Er blieb einige Sekunden lang regungslos stehen, lauschte dem wilden Krähen einiger Raben und war sich plötzlich eines bewusst: Jeder dieser Bäume stand in einer Schusslinie zu seiner jetzigen Position.
Schüsse? Waren dies Einschüsse?
Diese Erkenntnis nahm ihm kurz den Atem. Er drehte seinen Kopf vorsichtig nach allen Seiten, als befürchte er, von jemandem beobachtet zu werden. Hatte da etwas geraschelt? War da ein Schatten hinter der weit entfernten Reihe dicker Bäume gewesen?
Melzinger fühlte sich von einem Moment auf den anderen selbst inmitten dieser Schusslinie. Er versuchte, die aufkommenden Ängste zu vertreiben. Alles doch nur Unsinn, redete er sich ein. Kein Grund zur Panik. Hier war niemand. Außer vielleicht ein paar Tiere. Doch so sehr er sich gegen diese diffusen Ängste wehrte, desto mehr übermannten sie ihn. Hier, in diesem Hochwald, der mit seinen mächtigen Stämmen und dem bunten Blätterdach wie eine Kathedrale aufragte, bot er am Erdboden eine gute Zielscheibe.
Lass dich nicht verrückt machen, befahl ihm eine innere Stimme. Es ist dein Wald. Es ist dein Besitz. Melzinger spürte, wie sein Selbstbewusstsein wieder die Oberhand gewann. Er hatte in seinem langen Bauernleben schon viele brenzlige Situationen gemeistert. Er war Opfer von Einbrüchen und Diebstählen geworden, hatte mit seinem Viehbestand alle möglichen Seuchen bewältigt und sogar Anfeindungen von Neidern einfach abgeschüttelt. Mit diesen Gedanken zerstreute er die Furcht, die ihn beim Gedanken an Schüsse kurz befallen hatte. Er würde der Sache auf den Grund gehen. Er würde herausfinden, womit gegen seine Bäume geschossen worden war. Ein großes Kaliber war es jedenfalls nicht.
Vielleicht hatte dies auch gar nicht ihm persönlich, also seinem Besitz, gegolten. Möglicherweise steckten nur Schießübungen dahinter. Doch womit?
Er ging noch einmal zu
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