Machtlos
und Fotos gemacht hatten.
Sie hatte in der Dunkelheit gehockt und gefroren.
Jetzt saß er vor ihr an einem Tisch in einem anderen Raum. Neben ihm ein Stuhl, Kleidung, etwas zu trinken. Bei dem Anblick fuhr sie sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. Seit sie Hamburg verlassen hatte, hatte sie nichts mehr bekommen. Sie hatte rasende Kopfschmerzen und zitterte vor Kälte am ganzen Körper.
»Ich will, dass du mir dein Leben erzählst.« Er sprach Englisch mit ihr. Mit einer harten, klaren Stimme. »Von dem Zeitpunkt an, wo du Noor al-Almawi kennengelernt hast.«
Sie schwieg.
Er schlug sie nicht. Fasste sie nicht an. Er hatte es seit ihrer Ankunft nicht getan. Nur ihre Kleidung mit jener blitzenden Klinge aufgeschnitten. Er ließ sie einfach nur in ihre Zelle zurückbringen. Zurück in Dunkelheit und Kälte, wo sie sich an die Wand kauerte, verstört und fassungslos über das, was passierte. Du kommst hier raus, und dann verklagst du sie alle. Alle. Alle. Das Wort schien von den Wänden widerzuhallen, sich zu vervielfältigen, es hämmerte und pochte in ihrem schmerzenden Kopf. Sie dachte an die Flasche Wasser, die vor ihm auf dem Tisch gestanden hatte, und fragte sich, warum sie nicht gesprochen hatte. Wie lange konnte ein Mensch ohne Flüssigkeitszufuhr überleben? Wir werden dich nicht sterben lassen, hatte er gesagt. Nein, aber wir werden dir das Leben zur Hölle machen, dachte sie voller Zynismus und ließ den Kopf auf ihre Arme sinken.
In diesem Moment flog die Zellentür auf.
Sie erfuhr nie, wie viele es waren. Es ging zu schnell. Kräftige Hände rissen sie zu Boden. Unebener Stein drückte sich schmerzhaft in ihren ungeschützten Rücken. Sie schrie, schlug um sich, wehrte sich verzweifelt, aber es waren zu viele. Sie hatte keine Chance. Kälte kroch aus dem Beton über ihre nackte Haut, dort, wo sie sie auf den Boden pressten. Sie konnte sie nicht sehen in der Dunkelheit, aber sie konnte sie riechen, spürte ihre Hände auf ihren Armen und Beinen, hörte ihren schnellen Atem. Das Öffnen eines Reißverschlusses. Panik durchfuhr Valerie, als sie begriff, was geschehen würde.
Sie lag lange reglos auf dem Boden, auch nachdem sie längst fort waren. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie waren warm auf ihrer Haut. So warm wie das Blut, das aus ihr heraus auf den kalten Beton tropfte und zwischen ihren Beinen einen kleinen roten See bildete, der an den Rändern bereits antrocknete. Sie starrte in die Dunkelheit. Sah nichts, hörte nichts. Ihr Unterleib war eine einzige große Wunde, und brennender Schmerz durchzuckte sie bei jeder noch so kleinen Bewegung. Sie konnte nicht denken. Nichts fühlen außer Schmerz. Und Leere.
Es formten sich Worte in dieser Leere.
So war das also.
So fühlte es sich an.
Sie erinnerte sich.
Sie hatte Frauen vor Gericht vertreten, die vergewaltigt worden waren. Die den Mut gehabt hatten, den Mann anzuzeigen, der ihnen das angetan hatte. Sie hatte versucht, ihre Scham nachzuvollziehen, ihre Wut, ihre Angst. Es war ihr nie richtig gelungen. Sie hatte von Massenvergewaltigungen gelesen. Von Frauen, die sich danach umgebracht hatten. Und sie fragte sich, ob es die Leere war, die sie irgendwann nicht mehr ertragen hatten. Eine Leere, die wucherte wie ein Geschwür.
Der Raum war unverändert. Er saß hinter dem Tisch, als sie hereingebracht wurde. War er dabei gewesen? War er einer von jenen gewesen, die ihr gezeigt hatten, dass es in diesem Gefängnis nichts gab, was sie schützte, dass sie nichts besaß, nicht einmal ihren eigenen Körper? Seine Miene ließ keine Rückschlüsse zu. Unbewegt sah er sie an. Sie konnte sich nicht erinnern, wie lange sie auf dem Boden der Zelle gelegen hatte, dankbar für die Kälte, die ihre Schmerzen betäubte. Sie hatte dort gelegen, bis sie gekommen waren, um sie zu ihm zu bringen. »Ich will, dass du mir dein Leben erzählst«, sagte er, als wäre nichts gewesen.
Sie hatte das Gefühl, dass sie aus jeder Pore stank, aber er ignorierte ihre Blöße und ihren verdreckten Körper.Wenn sie sich bewegte, roch sie die Männer, und ihr Geruch erinnerte sie immer wieder aufs Neue an das, was geschehen war. Sie hatte gehört, dass es Frauen gab, die sich nach einer Vergewaltigung die Haut vom Leib geschrubbt hatten.
Sie blickte auf den zweiten Stuhl, die Kleidung und die Flasche Wasser, von der das Etikett säuberlich entfernt worden war. Ihre Kehle brannte, ihr Unterleib schmerzte. Sie wollte nicht über sich reden. Nicht an
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