Machtlos
du ziehst deine Schultern hoch, als wärst du völlig verspannt. Und viertens hast du wieder diesen «gehetztes Reh»-Blick. Den hast du immer, wenn dir ‘ne fette Laus über die Leber gelaufen ist. Irgendwas läuft bei dir zurzeit nicht ganz rund. Also, erzählst du deinem Mitbewohner jetzt, was dich bedrückt, oder werde ich dir wieder alles einzeln aus der Nase ziehen, wie schon so oft?“
Er blickte sie über seine vier wackelnden Aufzählungsfinger auffordernd an und Victoria konnte in seinen Gedanken sehen, dass er nicht den geringsten Zweifel an der Richtigkeit seiner Ausführung hatte.
Sie gab sich lächelnd geschlagen und sagte: „Ich bin beeindruckt J, und ja, ich nehme auch einen Tee.“
Dann ließ sie sich auf einen Küchenstuhl plumpsen und schlug seufzend die Hände vor ihr Gesicht. „Gleich muss ich ihm alles erzählen. Oh nee!“
Ihr Mitbewohner lachte nur gutmütig, während er das Wasser für den Tee aufsetzte. „So schlimm ist es, ja?“
Sie hielt ihr Gesicht noch immer versteckt und stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Küchentisch ab. Nickend murmelte sie durch die Finger: „Es ist noch viel schlimmer…“
J klöterte mit den Bechern an der Küchenzeile. „Soll ich vielleicht doch lieber gleich den Whiskey rausholen?“
Victoria tauchte wieder auf und schüttelte den Kopf. „Nee, lass man lieber – Tee ist prima.“
Nach ein paar Minuten standen zwei dampfende Becher auf dem Tisch und J zauberte sogar noch eine Tupperdose mit Butterkeksen aus dem Regal. Dann setzte er sich und sagte: „So Prinzessin, nun erzähl mal.“
Sie blickte ihren Freund direkt an, schlug die Augen aber doch wieder nieder und flüsterte: „Jaromir und ich heiraten.“ Sie schluckte. „Jetzt ist es raus!“ , dachte sie und eine Ameisenkolonie setzte sich in ihrem Körper in Bewegung.
J sagte erst mal gar nichts. Er war mehr als nur überrascht, das konnte Victoria sehen.
Wortlos stand ihr Mitbewohner auf, holte seinen Whiskey und zwei Gläser. Dann sagte er trocken: „Wenn du keinen brauchst – also, ich brauche jetzt einen!“ und sah sie fragend an.
Victoria zuckte gleichgültig mit den Schultern und bedeutete J, ihr doch ein Glas einzuschenken.
Schweigend nippten beide an der goldenen Flüssigkeit.
Schließlich trank J einen großen Schluck, verzog ächzend sein Gesicht und meinte: „Das ist ja mal eine Neuigkeit!“ Dann kniff er seine Augen zusammen. „Das war nicht gerade deine Idee, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nee, das kannst du wohl glauben!“
J sah sie mitfühlend an und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. „Du weißt, dass du in einer Zeit und einer Gesellschaft lebst, in der jeder – also auch ihr Mädels – selbst entscheiden darf, ob er heiraten will, oder nicht. Also, was steckt dahinter, Victoria?“
Das war typisch J – er wusste gleich Bescheid und er stellte wie immer die richtigen Fragen.
Sie seufzte: „Die Sache ist kompliziert…“
Er grinste. „Also, damit habe ich jetzt irgendwie gerechnet. Ich habe die ganze Nacht Zeit…“
Sie lächelte schief. Jaromir und sie hatten beschlossen, so nah wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben und so erzählte sie: „Jaromirs Verwandtschaft ist ziemlich einflussreich und sehr konservativ. Sie haben … Möglichkeiten … uns zum Heiraten zu zwingen. Kurz gesagt, sie können uns das Leben schwer machen, wenn wir es nicht tun.“
J sah sie aufmerksam an und wartete, ob sie noch mehr erzählte.
Sie konnte sehen, dass er an die Mafia dachte und fügte hinzu: „Ich weiß, was du denkst – aber seine «Familie» ist nicht die Mafia. Die machen nichts Illegales… die haben nur ihre Finger überall mit drin… und die sind echt schweinereich.“
J winkte ab. „Ich sehe schon, dass du mir über seine «Familie» nicht mehr erzählen kannst. Sag mir nur eins: Ist Jaromir das wert, dass du mit 21 gegen deinen Willen heiratest? Ich meine, du könntest den Professor auch verlassen…“
Victoria sah ihren Freund an. J hatte recht. Der entscheidende Punkt war gar nicht der Schutz des unbrechbaren Versprechens oder die Tatsache, dass sie Gefährten waren und sie ihn gar nicht verlassen konnte. Der entscheidende Punkt war, dass sie ihn nicht verlassen WOLLTE, egal, ob und wie sie heiraten mussten. Jaromir war dieses Opfer einfach wert!
Diese Erkenntnis überwältigte sie und sie wurde ganz gefühlsduselig. Schließlich flüsterte sie: „Jaromir ist es wert!“
J’s Augen verengten sich prüfend und
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