Machtlos
war vorüber und der Himmel riss wieder auf. Die Abendsonne vertrieb die letzten Wolkenfetzen. Sie öffneten die Fenster des weißen Salons und herrlich frische Luft strömte herein und löste so die drückende Schwüle der letzten Stunden ab. Es war jetzt halb neun. In der nächsten Viertelstunde würde die Sonne untergehen.
Da betrat Albert den Raum, verneigte sich leicht und sagte: „In Anbetracht des herrlichen Wetters habe ich die Terrasse hergerichtet. Möchten Sie das Dessert vielleicht draußen zu sich nehmen?“
Kerstin und J machten große Augen, aber Jaromir antwortete lächelnd: „Klasse Albert! Das machen wir. Deine Idee kommt gerade zur rechten Zeit.“
Dann wandte sich Albert an Victoria: „Ich würde mir gern erlauben, das Dessert in den großen Schalen zu servieren.“ Er sah kurz zu Kerstin und J hinüber und dann wieder zu Victoria: „Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist, Frau Abendrot.“
Victoria blickte kurz zu ihren Freunden und antwortete breit grinsend: „Die großen Schalen sind super. Danke, Albert!“
Die Gedanken von Victorias Freunden überschlugen sich. Der Butler brachte sie aus der Fassung.
Albert verließ dezent den Raum und Jaromir führte die kleine Gesellschaft durch das Haus bis zum Speisesalon.
Victoria hatte sich an diesen Raum durch die unzähligen Audienzen in den letzten Wochen gewöhnt, fühlte sich in der steifen, herrschaftlichen Atmosphäre aber noch immer unwohl. Ihren Freunden ging es da nicht anders. Sie spürte deutlich, dass sich Kerstin und auch J ganz beklommen fühlten. Beide betrachteten eingehend die mittelalterlichen Kampfszenen von Menschen und Drachen, die kunstvoll in das schwarze Holz der Wandvertäfelung geschnitzt worden waren.
J dachte fasziniert: „Diese Schnitzereien sind so detailreich und so ausdrucksstark – wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass es tatsächlich einmal Drachen gegeben hat.“ Er sagte laut: „Mann, Jaromir! Dein Vorfahr muss eine sehr lebendige Fantasie gehabt haben.“
Dann blickte er sich noch einmal um und fügte hinzu: „Würde er heute leben, würde man ihn wohl der Gothic-Szene zuordnen – bei all dem Schwarz, Dunkelrot und Grün.“
Jaromir antwortete achselzuckend: „Es soll eine Zeit gegeben haben, da war das hier die neueste Mode. Nun ja, die Zeiten ändern sich.“ Bei den letzten Worten drückte er zärtlich Victorias Hand.
Kerstin sagte gar nichts. Sie starrte nur mit ungläubig aufgerissenen Augen auf die Drachen an der Wand. „Das kann nicht sein! Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass diese Himmelswesen mehr sind, als das Ergebnis einer überschäumenden Einbildungskraft?“
Als sie die Terrasse betraten, spürte Victoria das Aufatmen ihrer Freunde. Das Gewitter hatte die Luft gereinigt, aber nicht völlig abgekühlt. Es war angenehm warm.
Die ungewohnte Ausstattung des Hauses und der kurze Aufenthalt in der düsteren Atmosphäre des Speisezimmers gerade eben hatten dafür gesorgt, dass die beiden angespannt waren. Die Terrassenmöbel waren zwar auch edel, aber der freie Blick auf den Park und der Himmel über ihnen ließ das Gefühl, in dieser Umgebung fehl am Platze zu sein, von ihnen abfallen. Sie entspannten sich.
Albert hatte etliche Windlichter aufgestellt und die Kerzen darin brannten bereits. Nun kam er mit einem Tablett mit vier Schalen.
Victoria strahlte, als sie erkannte, dass Albert wieder ihr Lieblingseis gemacht hatte: eine Kreation aus Sahne, Zimt, Datteln und groben Schokoladenstückchen. Dazu gab es frische Feigen mit einer kräftigen Balsamikocreme, die sogar noch leicht warm war.
Während die vier das Eis genossen, sagte keiner ein Wort. Victoria grinste und musste an ihre Mutter denken. Die hatte in solchen Momenten immer gesagt: „Das ist das genüssliche Schweigen der Puddingpause.“
Die Sonne ging unter und tauchte den Himmel in flammendes Rot. Es war ein perfekter Moment.
Nachdem alle die Dessertschalen restlos geleert hatten, lehnte Kerstin sich zurück und stöhnte: „Boahhh, Ich habe noch nie so viele so köstliche Sachen an einem Tag gegessen wie heute. Aber das war alles so was von lecker! Ich konnte einfach nicht aufhören.“
J nickte andächtig. „Ich war vorgewarnt, weil Vici schon mal etwas von Albert mitgebracht hat. Aber trotzdem: Ich hoffe inständig, dass er keine weiteren Leckereien mehr bringt, sonst platze ich!“
Victoria kicherte ausgelassen. „Und ihr wundert euch, dass ich keinen Bock mehr auf Mensa
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