Machtlos
„Das kann ich dir leider nicht mit Sicherheit sagen. Ich vermute jedoch, dass ab der Bindungsphase eine gewisse lockere Bindung zwischen den Partnern besteht – etwa eine Art Vorstufe zu der Geistesverbindung, die du jetzt mit Jaromir teilst. Doch, meine liebe Schülerin, das ist reine Spekulation.“
Dann sah er sie prüfend an. Ganz offensichtlich spürte Hoggi, dass Victoria aufgewühlt war. Der alte Weiße glaubte, dass sie von ihrer eigenen Geschichte gefangen genommen wurde und sich ausmalte, was alles hätte schief gehen können. Er lächelte und sagte gutmütig: „Aber, aber Victoria, bei euch ist doch alles gut gegangen. Wie gesagt: Ihr zwei habt alles richtig gemacht. Darauf könnt ihr sehr stolz sein. Ihr habt für alle weiteren Gefährten den Weg bereitet. Die Nächsten werden es dank euch viel leichter haben.“
Victoria versuchte ein Lächeln, doch ihr gelang nur ein schiefes Grinsen. Am liebsten wäre sie sofort zu Lenir gegangen und hätte ihm all das, was sie eben von Hoggi erfahren hatte, um die Ohren gehauen. So durfte Lenni auf keinen Fall mit Kerstin weitermachen!
„Ganz ruhig Süße“ , meldete sich Jaromir. „Lenir erledigt gerade etwas an der Uni und hat dann einen Termin bei Abrexar. Er wird erst morgen wieder zurück nach Kiel kommen. Wir reden gleich nach seiner Rückkehr mit ihm.“
Victoria gab ihrem Gefährten recht. Sie konnten jetzt nichts tun – jedenfalls nicht, ohne dass es auffallen würde. Doch die Unruhe blieb, als sie resigniert dachte: „Gut, morgen Abend stellen wir ihn zu Rede. Und diesmal gibt es keinen Aufschub!“
In den nächsten Stunden blendete Victoria das Problem ihrer Freunde aus. Sie hatte einen vollen Terminplan und Lenir war ohnehin nicht im Haus. Außerdem hatten sie Besuch von Narex. Das war einer der mächtigen, schwarzen Drachen, der mit ihnen in Nordschweden gekämpft hatte. Narex war um die achthundert Jahre alt, wirklich nett und überraschend locker.
Seine Menschengestalt assoziierte Victoria spontan mit einem Öko. Narex war in seiner menschlichen Erscheinung so um die vierzig, hatte lange Haare und trug eine Hornbrille. Er war sehr gelassen, verständnisvoll und ehrlich interessiert. Victoria sah in seinen Gedanken, dass das nicht aufgesetzt, sondern echt war.
So verlief diese Audienz ganz anders als sonst. Die Gefährten waren auf einer Wellenlänge mit dem alten Schwarzen und Victoria hatte das Gefühl, dass Narex ein guter Freund werden könnte.
Sie alberten gerade herum, als Victoria plötzlich Kerstins Verzweiflung spürte. Ihre Freundin war … hier?!
Dann bemerkte sie plötzlich, dass Albert eindringlich an sie dachte. Gezielt senden konnte er nicht, aber wenn er intensiv ihren Namen dachte, war es so, als würde jemand in einem überfüllten Raum laut über sie sprechen und so ihre Aufmerksamkeit erregen. „Frau Abendrot! Frau Abendrot!!! Ich bitte um Verzeihung. Ihre Freundin ist gerade eingetroffen – sie ist völlig aufgelöst!“
Ohne Anstrengung fand Victoria Kerstins Gedankenmuster. Sie war tatsächlich fix und fertig und stand weinend in der Empfangshalle.
Victoria wandte sich an ihren Gefährten: „Jaromir, ich muss zu ihr!“
„Selbstverständlich musst du das, Vici. Ich regle das hier.“ Er sah sie mitfühlend an und drückte kurz ihre Hand.
Victoria stand auf und sagte im Gehen: „Es tut mir leid, Narex.“
Sie rannte den Weg bis zur Empfangshalle. Noch immer stand Kerstin völlig aufgelöst in der großen Halle. Albert stand hilflos daneben und wusste nicht, was er tun sollte.
Victoria nickte dem Butler kurz zu und schickte ihm einen Gedanken: „Vielen Dank, Albert – ich kümmere mich um sie.“
Dann nahm sie Kerstin in den Arm. Ihre Freundin begann jetzt erst recht zu schluchzen und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Ihre Emotionen schlugen Victoria entgegen.
In diesem Moment war sie sehr dankbar, dass Hoggi ihr in den letzten Tagen gezeigt hatte, wie sie sich selbst schützen konnte. Sie war noch nicht wirklich gut darin und spürte dankbar, wie Jaromir zusätzlich den Distanzierungszauber auf sie legte. Der wirkte.
Victoria brachte Kerstin in ihren Salon und führte sie behutsam bis zum Sofa in der Klönecke.
Ihre Freundin bestand nur noch aus Tränen.
Nachdem sie sich ein paar Minuten ausgeweint hatte, fragte Victoria leise: „Was ist denn passiert, Kerstin?“
„Ich habe ihn getroffen“, schniefte sie tonlos und ihr kamen schon wieder die Tränen.
Victoria reichte ihr ein
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