Machtlos
Taschentuch. Sie konnte sehen, dass Kerstin auch heute an der Uni gewesen war, um Lennard «ganz zufällig» zu begegnen. Auf merkwürdige Weise hatte sie gewusst, dass er tatsächlich an der Uni war. Und plötzlich wusste sie sogar, wo genau er war: Er ging Richtung Ausgang. Genau dort wartete sie auf ihn. Dann machte er kehrt und begab sich zum Nebenausgang. Kerstin war aufgesprungen und ihm nachgelaufen.
Victoria biss sich auf die Lippe. Sie wusste, was das bedeutete! „Scheiße!“ , dachte sie und konzentrierte sich weiter auf Kerstins Gedanken. Ihre Freundin hatte Lennard kurz vor der Tür eingeholt. Als er sie erkannt hatte, hatte er ungläubig seine Augen aufgerissen. Sie hatte mit pochendem Herzen und voller Sehnsucht vor ihm gestanden und nicht gewusst, was sie sagen sollte. Doch Lenir hatte nur traurig seinen Kopf geschüttelt und gequält erklärt: „Ich kann nicht mit dir zusammen sein, Kerstin… ich kann nicht!“ Dann hatte seine Miene sich verschlossen. Er hatte sich umgedreht, war durch die Glastür gegangen und hatte sie allein dort stehengelassen.
Kerstin würgte hervor: „Er will mich nicht!“ und begann wieder zu schluchzen. Victoria konnte trotz des Distanzierungszaubers dumpf ihren Schmerz fühlen.
Nach ein paar Minuten putzte Kerstin sich umständlich ihre Nase. Sie erzählte unzusammenhängend, was sich zugetragen hatte. Dann lachte sie hysterisch und rief: „Ich werde verrückt!“ Sie lachte noch einmal und sprach plötzlich schnell wie ein Wasserfall, aus Angst unterbrochen zu werden. „Wirklich, Victoria – ich bin nicht mehr ganz dicht! Ich WEISS, wo Lennard sich aufhält. Es ist, als wäre mir über Nacht ein neues Sinnesorgan gewachsen. Ich kann «sehen», wo er hingeht – auch wenn ich in einem ganz anderen Raum bin.“
Victoria sah ihre Freundin ernst an. Sie wusste haargenau, wovon Kerstin redete. Ihr war mit Jaromir vor ein paar Monaten genau dasselbe passiert.
Sie spürte, dass Kerstin mit ihrer körpereigenen, astralen Kraft gezaubert hatte und völlig ausgelaugt war. Tatsächlich konnte sie den «Durst», wie die Drachen dieses Phänomen nannten, in ihren Augen sehen. Sie legten einen Arm um ihre Freundin und sagte: „Du wirst nicht verrückt, Kerstin. Du bist einfach nur völlig überreizt.“
Sie orderte bei Albert eine große Kanne Jogi-Tee und bat Jaromir, den Distanzierungszauber für einen Moment von ihr zu nehmen, denn sie musste wissen, wie es Kerstin wirklich ging.
Ihr Gefährte erfüllte ihren Wunsch nach kurzem Zögern. Bewusst konzentrierte sie sich auf Kerstins Empfindungen und umging ihre eigenen Barrieren.
Sekunden später wurde Victoria von einer unstillbaren Sehnsucht erfüllt.
Sie hatte nur noch einen Gedanken: Sie MUSSTE mit Lennard zusammen sein!
Entfernt und unbedeutend spürte sie Jaromirs Grollen.
Dann wurde ihr Geist langsam wieder klarer. Offenbar hatte ihr Gefährte den Distanzierungszauber erneut auf sie gelegt. Erleichtert atmete sie auf und errichtete auch ihren eigenen Schutz wieder.
„Damit steht außer Frage, dass die Offenbarungsphase hinter den beiden liegt“ , stellte Jaromir fest.
Er zögerte kurz, fügte dann aber doch hinzu: „Bitte Victoria, mach das nicht noch mal. Ich kann es nicht ertragen, wenn du einen anderen außer mich willst!“
„Keine Sorge, mein Liebster, das habe ich nicht vor“ , antwortete Victoria grimmig. Sie war jetzt richtig sauer auf Lenir. „Wie kann dieser Esel nur so blind sein?! Hat er Kiel schon verlassen?“
Jaromir bestätigte das: „Er ist schon bei Abrexar und wenn wir ihn zurückbeordern, müssen wir den Grund nennen.“ Bevor Victoria genau das fordern konnte, sagte er: „Ich würde es Lenni gern selbst überlassen, die anderen Drachen zu informieren. Meinst du, wir können Kerstin wieder beruhigen?“
„Keine Ahnung“ , antwortete Victoria gereizt. Sie atmete noch einmal tief durch und meinte dann: „Kannst du den Distanzierungszauber statt auf mich auf Kerstin legen?“
„Ich probiere es.“
Sekunden später wurde Kerstin ruhiger. Sie schloss erschöpft die Augen und flüsterte: „Oh Mann, Victoria. Ich will Lennard ja gar nicht mehr. Ich will einfach nur, dass das aufhört.“
Dann schlief sie entkräftet ein.
Als Kerstin zwei Stunden später wieder aufwachte, ging es ihr besser. Der Schlaf hatte sie entspannt und die emotionale Verkrampfung gelöst, so dass sie den Distanzierungszauber vorerst nicht benötigte.
Trotzdem war sie erschöpft. Victoria lächelte ihre
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