Machtrausch
Vor dem Haus flatterten ein paar bunte Flaggen. Die Temperatur betrug, wie an allen anderen 364 Tagen im Jahr, knapp unter dreißig Grad, die Luftfeuchtigkeit lag leicht über der seines Zigarren-Humidors und der Himmel war bewölkt. Glock schwitzte. Das Hotel wurde kaum von Urlaubern genutzt. Touristen flogen nur deshalb so weit in den Indischen Ozean, um auf den maledivischen Palmeninseln im Sand zu liegen und nicht, um am Rande einer modernen und lauten Stadt zu wohnen, in der es keinen Tropfen Alkohol gab. Im Male Harbour Hotel schliefen Leute, die aus geschäftlichen Gründen in die Republik kamen oder die auf ihre Weiterreise warteten. Seine Frau, so teilte man ihm an der kleinen Rezeption mit, sei nicht auf ihrem Zimmer, sondern habe sich einen Stadtplan geben lassen und sei dann zum Shopping gegangen. Jaja, man könne in Male allerlei günstig einkaufen. Nein, nur Alkohol gebe es in der ganzen Stadt nicht, sonst absolut alles. Er wies sich als ihr Ehemann aus, ließ sich den Schlüssel geben und ging in den zweiten Stock. Zimmer 212. Ihr Mobiltelefon klingelte ins Leere, als er sie zu erreichen versuchte. Ein geräumiges Zimmer mit Balkon in Richtung Meer. Ersatzweise freute er sich an der typischen Unordnung, die seine Frau binnen Minuten in jedem Zimmer erzeugte. Fön, Bücher, Handtücher und verschiedene Oberteile lagen quer verstreut im Zimmer. Er räumte mit dem Ellenbogen ein wenig Platz auf dem Schreibtisch frei und schrieb auf zwei randvollen Seiten die Ereignisse und Erkenntnisse der vergangenen Tage auf. Dann ging er erneut zur Rezeption und ließ sich alles am Faxgerät einmal durchkopieren. Die Kopien schickte er erneut an Alois Rauch in Deutschland, das Original behielt er und verstaute es in der Aktentasche, die er nicht aus der Hand gab. Anton Glock aß ein paar Kekse, las ein paar Seiten in › The Third Policeman‹ auf dem kleinen Balkon. Er wunderte sich erstens wieder einmal, warum in dem Buch bisher gar kein dritter Polizist vorkam und zweitens, was viel ernster war, warum sich Barbara einfach nicht meldete. Shopping in Male konnte nicht mehr als ein bis zwei Stunden in Anspruch nehmen, zumal Einkaufen sie normalerweise schnell langweilte. Auf dem Handy war sie noch immer nicht erreichbar. Hatte sie seine SMS-Kurznachricht vorhin gar nicht erhalten? Anton beschloss, im Zimmer zu warten, um sie auf keinen Fall zu verfehlen.
Er schreckte auf. Die letzten Tage schienen ihn begreiflicherweise etwas mitgenommen zu haben, und so war er auf dem Doppelbett eingenickt. Die Sonne ging in den Tropen recht schnell unter – es wurde gerade dunkel, obwohl es erst halb sieben war. Erst!? Der Blick zum Mobiltelefon zeigte: Kein Anruf und keine Nachricht von seiner Frau. Auch an der Rezeption, die er vom Zimmer aus anrief, hatte man nichts von ihr gehört. Und an den Apparat ging sie nach wie vor nicht. Jetzt machte er sich ernsthaft Sorgen. Was war passiert? Ziellos lief er im Kreis herum. Dann durchwühlte er alle Sachen im Zimmer, um einen Hinweis auf Barbaras Verbleib zu finden. Es war zum Verzweifeln! So nah vor der Lösung und dann so etwas. Er würde sie erwürgen, wenn sie in einem Museum hängen geblieben war. Gab es hier überhaupt dergleichen? Er wollte gerade zur Rezeption hinuntergehen, um mit den freundlichen Wesen dort alle Optionen durchzusprechen, als sein Zweittelefon vibrierend den Eingang einer SMS anzeigte: › Yasmin Restaurant. In half an hour. Don’t forget your bag !‹ Abgesendet von Barbaras Telefon, wie er an der Nummer sehen konnte. Endlich, sie meldete sich! Die Freude dauerte nur zwei Sekunden, dann wurde ihm schlagartig bewusst, dass die Nachricht natürlich nicht von Barbara war, gar nicht von ihr sein konnte. Sie beherrschte Englisch zwar ausgezeichnet, empfand die Sprache jedoch als kolonialistisch und primitiv. Auch der Inhalt machte keinen Sinn, wenn die SMS von ihr kam. Also hatte man sie, samt Handy, einkassiert und hielt sie gefangen? Er wusste keine andere Erklärung. Wut stieg in ihm hoch und richtete sich ausschließlich gegen ihn selbst. Er hatte Barbara diesen Mist eingebrockt und sie in diese Situation gebracht! Schnell beherrschte er sich. Für nutzlose Emotionen blieb jetzt keine Zeit. Angst hatte er um seine Frau, panische Angst. Er zog blitzschnell eine lange Hose an und griff sich die Aktentasche mit dem restlichen Geld und seinen gesammelten Werken. Die Treppe zur Rezeption rannte er hinunter. Anschließend ließ er sich den Weg zum Yasmin
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