Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
hereinschauten. Da kam ihr die Erinnerung an Les Bertaux. Sie sah das Gehöft wieder, den morastigen Tümpel, ihren Vater im Kittel unter den Apfelbäumen, und sie sah auch sich selbst, wie früher, als sie im Milchkeller mit dem Finger die Milch in den Schüsseln abrahmte. Doch im Gleißen der gegenwärtigen Stunde zerrann ihr vergangenes, bisher so deutlich sichtbares Leben zu nichts, und fast zweifelte sie, es gelebt zu haben. Sie war hier; und rund um den Ball gab es nur noch ein Dunkel, das alles übrige verhüllte. Sie aß gerade ein Maraschino-Eis, hielt es mit der linken Hand in einem Vermeilschälchen und schloss halb die Augen, den Löffel zwischen den Zähnen.
Eine Dame in ihrer Nähe ließ den Fächer fallen. Ein Tänzer kam vorüber.
»Wären Sie so liebenswürdig, Monsieur«, sagte die Dame, »meinen Fächer aufzuheben, er liegt hinter diesem Kanapee!«
Der Herr beugte sich hinab, und während er seinen Arm ausstreckte, sah Emma, wie die Hand der jungen Dame etwas Weißes, zu einem Dreieck Gefaltetes in seinen Hut warf. Der Herr brachte den Fächer, reichte ihn ehrfürchtig der Dame; sie dankte mit einem Nicken und steckte die Nase in ihr Blumensträußchen.
Nach dem Souper, bei dem es viele Weine aus Spanien gab und Weine vom Rhein, Suppen mit Hummercoulis und Mandelmilch, Pudding à la Trafalgar und allerlei kaltes Fleisch samt Gelees, zitternd in ihren Schüsseln, begannen die Wagen nacheinander abzufahren. Wenn man einen Zipfel des Musselinvorhangs hob, sah man den Schein ihrer Laternen durchs Dunkel gleiten. Die Bankreihen lichteten sich; ein paar Spieler waren noch da; die Musikanten kühlten sich auf der Zunge ihre Fingerspitzen; Charles war fast eingeschlafen und lehnte mit dem Rücken an einer Tür.
Früh um drei begann der Kotillon. Emma konnte nicht Walzer tanzen. Alle tanzten Walzer, sogar Mademoiselle d’Andervilliers und die Marquise; nur die Schlossgäste waren geblieben, ein Dutzend Personen vielleicht.
Doch einer der Walzertänzer, den alle zwanglos Vicomte nannten und dessen weit ausgeschnittene Weste auf der Brust saß wie angegossen, forderte Madame Bovary noch ein zweites Mal auf und versicherte, er wolle sie führen und sie werde ihre Sache gut machen.
Sie begannen langsam, wurden dann schneller und schneller. Sie drehten sich: alles drehte sich um sie herum, die Lampen, die Möbel, die Täfelungen und das Parkett, wie die Scheibe um ihre Achse. Als sie an den Türen vorüberkamen, schmiegte sich der Saum von Emmas Kleid an die Hose; ihre Beine drängten ineinander; er blickte auf sie herab, sie blickte zu ihm hinauf; ihr schwindelte, sie blieb stehen. Sie tanzten weiter; und der Vicomte führte mit noch schnellerer Bewegung, verschwand mit ihr bis ans Ende der Galerie, und dort, nach Luft ringend, beinahe fallend, lehnte sie für einen Augenblick den Kopf an seine Brust. Und dann brachte er sie, immer noch drehend, jedoch behutsamer, zurück an ihren Platz; sie ließ sich gegen die Wand sinken und legte eine Hand vor die Augen.
Als sie wieder hochblickte, saß mitten im Salon eine Dame auf einem Schemel, vor ihr knieten drei Tänzer. Sie erwählte den Vicomte, und von neuem spielte die Geige.
Man schaute ihnen zu. Sie wirbelten vorüber und kehrten wieder zurück, sie mit reglosem Körper und gesenktem Kinn, und er stets in der gleichen Haltung, den Rücken durchgedrückt, die Ellbogen gerundet, den Mund gespitzt. Die da, die konnte Walzer tanzen! Sie hielten lange durch und ermüdeten alle andern.
Man plauderte noch ein paar Minuten, und nach dem Adieu oder vielmehr dem Guten Morgen gingen die Schlossgäste zu Bett.
Charles zog sich am Treppengeländer hinauf, er hatte sich die Beine in den Bauch gestanden . Fünf Stunden hintereinander hatte er vor den Spieltischen verbracht und beim Whist zugeschaut, ohne irgendetwas zu begreifen. Deshalb tat er einen tiefen Seufzer der Zufriedenheit, als er seine Stiefel ausgezogen hatte.
Emma warf sich einen Shawl über die Schultern, öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus.
Die Nacht war tiefschwarz. Es gab ein paar Regentropfen. Sie atmete den feuchten Wind, der ihre Lider kühlte. Die Ballmusik summte ihr noch im Ohr, und sie zwang sich, wach zu bleiben, um fortzuspinnen an der Illusion von diesem prunkvollen Leben, das sie in wenigen Stunden zurücklassen musste.
Der Morgen graute. Lange betrachtete sie die Fenster des Schlosses und versuchte zu erraten, wo die Zimmer derjenigen lagen, die ihr am Vorabend aufgefallen
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