Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
bisschen Zärtlichkeit zu empfinden für diesen armen Kerl, der sie anbetete. Der Gedanke an Rodolphe schoss ihr durch den Kopf; doch ihre Augen blickten wieder auf Charles: sie bemerkte sogar überrascht, dass seine Zähne gar nicht hässlich waren.
Sie lagen im Bett, da stürmte Monsieur Homais, der Köchin zum Trotz, durch die Zimmertür, in der Hand ein frisch beschriebenes Blatt Papier. Es war ein Bericht für den Fanal de Rouen . Er brachte ihn zum Lesen vorbei.
»Lesen Sie doch bitte«, sagte Bovary.
Er las:
»Trotz der Vorurteile, die immer noch einen Teil von Europas Angesicht wie ein Netz überziehen, dringt allmählich Licht in unsere Landstriche. So wurde am Dienstag unsere kleine Polis Yonville zum Schauplatz eines chirurgischen Experiments, welches zugleich einen Akt großer Philanthropie darstellt. Monsieur Bovary, einer unserer bedeutendsten Ärzte …«
»Oh! das ist zuviel des Guten! zuviel des Guten!« sagte Charles, und ihm stockte vor Rührung der Atem.
»Nein, nein, keineswegs! ich bitte Sie! … Hat eine Klumpfußoperation durchgeführt … Ich habe den wissenschaftlichen Fachausdruck nicht verwendet, denn, Sie wissen ja, in einer Zeitung …, das würde vielleicht nicht jeder verstehen; es ist unerlässlich, dass die Massen …«
»Ganz richtig«, sagte Bovary. »Fahren Sie fort.«
»Ich beginne noch einmal«, sagte der Apotheker. »Monsieur Bovary, einer unserer bedeutendsten Ärzte, hat eine Klumpfußoperation durchgeführt, an einem gewissen Hippolyte Tautain, seit zwanzig Jahren Stallbursche im Hotel Lion d’or , das an der Place d’Armes von der verwitweten Madame Lefrançois bewirtschaftet wird. Die Neuartigkeit des Versuchs und die Anteilnahme an dem Betroffenen hatten zu einem solchen Menschenauflauf geführt, dass vor dem Etablissement ein wahrhaftiges Gedränge herrschte. Die Operation verlief übrigens wie durch Zauberkraft, kaum ein paar Blutstropfen zeigten sich auf der Haut, als wollten sie sagen, die widerborstige Sehne habe endlich nachgegeben unter den Anstrengungen der Kunst. Der Patient, was verwunderlich ist (wir bestätigen es de visu ), spürte keinerlei Schmerz. Sein Zustand lässt bis dato nichts zu wünschen übrig. Alles spricht dafür, dass er rasch genesen wird; und wer weiß, vielleicht erleben wir auf dem nächsten Dorffest unsern wackeren Hippolyte sogar bei bacchantischen Tänzen, inmitten einer Schar fideler Gesellen, und somit wäre vor aller Augen, durch seine Ausgelassenheit und seine Luftsprünge, der Beweis erbracht für seine vollständige Heilung? Ehre also den hochherzigen Gelehrten! Ehre diesen unermüdlichen Denkern, die ihre Nächte opfern, um dem Menschengeschlecht ein besseres Dasein oder Erleichterung zu schenken! Ehre! dreifach Ehre! Haben wir jetzt nicht allen Grund zu rufen: Die Blinden werden sehen, die Tauben hören und die Lahmen gehen! Doch was der Fanatismus einst seinen Auserwählten verhieß, vollbringt die Wissenschaft heute für alle Menschen! Wir werden unsere Leser weiterhin unterrichten über den Verlauf dieser so vorzüglichen Behandlungsmethode.«
Nichtsdestoweniger kam fünf Tage später Mutter Lefrançois schreckensbleich angelaufen und schrie:
»Zu Hilfe! er stirbt! … Ich weiß nicht mehr aus noch ein!«
Charles hastete zum Lion d’or , und der Apotheker, der ihn über den Platz rennen sah, ohne Hut, verließ die Apotheke. Dann erschien er persönlich, keuchend, rot, besorgt, und fragte jeden, der die Treppe hinaufging:
»Was hat denn unser interessanter Strephopode?«
Er krümmte sich, der Strephopode, unter entsetzlichen Verrenkungen, sodass der mechanische Apparat, der sein Bein fest umschloss, gegen die Wand schlug und diese zu zertrümmern drohte.
Mit großer Vorsicht, um die Stellung der Gliedmaße nicht zu verändern, entfernte man also den Kasten, und es bot sich ein grässlicher Anblick. Die Umrisse des Fußes verschwanden unter einer so dicken Schwellung, dass die ganze Haut kurz vorm Aufplatzen schien, und sie war übersät von blauen Flecken, hervorgerufen durch besagtes Gerät. Hippolyte hatte bereits über Schmerzen geklagt; er war nicht ernst genommen worden; nun hieß es eingestehen, dass er nicht vollkommen unrecht gehabt hatte; und man ließ ihm für ein paar Stunden Freiheit. Doch kaum verschwand das Ödem ein wenig, hielten die beiden Gelehrten es für ratsam, die Gliedmaße wieder in die Vorrichtung zu spannen, und diesmal noch enger, um das ganze zu beschleunigen. Als drei Tage später
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