Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
Religion noch Chirurgie schienen ihm zu helfen, und die unbesiegbare Fäulnis fraß sich, wie stets, von den Extremitäten zum Bauch. Auch wenn man ständig die Arzneien wechselte und die Umschläge erneuerte, mit jedem Tag lösten sich die Muskeln noch mehr, und schließlich nickte Charles zustimmend, als Mutter Lefrançois fragte, ob sie nicht als letzten Ausweg Monsieur Canivet aus Neufchâtel rufen dürfe, der sei eine Berühmtheit.
Doktor der Medizin, fünfzig Jahre alt, in guter Stellung und selbstsicher, tat der Kollege sich keinen Zwang an und lachte verächtlich, als er dieses bis ans Knie brandige Bein zu Gesicht bekam. Nachdem er unverblümt erklärt hatte, es müsse amputiert werden, ging er hinüber zum Apotheker und schimpfte auf die Esel, die einen armseligen Menschen so verhunzt hatten. Er rüttelte Monsieur Homais am Knopf seines Gehrocks und tobte in der Apotheke:
»Das sind Erfindungen aus Paris! Lauter Ideen dieser Herrn in der Hauptstadt! Wie Strabismus, Chloroform und Lithotripsie, ein Haufen von Scheußlichkeiten, das müsste die Regierung verbieten! Aber man will den Schlaumeier spielen, und man verpasst irgendwelche Mittel, ohne sich um die Folgen zu scheren. Unsereiner ist nicht so geschickt, unsereiner nicht; unsereiner ist kein Gelehrter, kein Zierbengel, kein Laffe; unsereiner ist Praktiker, Heilkundiger, und unsereiner lässt sich nicht einfallen, jemanden zu operieren, dem es großartig geht! Klumpfüße geraderichten! kann man Klumpfüße geraderichten? das ist ja, als wollte man zum Beispiel einen Buckligen strecken!«
Homais litt beim Anhören dieses Geredes, und er verbarg sein Missbehagen hinter devotem Lächeln, denn er musste Rücksicht nehmen auf Monsieur Canivet, dessen Rezepte zuweilen bis nach Yonville gelangten; so verteidigte er Bovary nicht, erlaubte sich nicht einmal die kleinste Bemerkung und opferte, unter Preisgabe aller Prinzipien, seine Würde den übergeordneten Interessen seines Geschäfts.
Für das ganze Dorf war sie ein gewaltiges Ereignis, diese Schenkelamputation durch Doktor Canivet! Die Bewohner waren an diesem Tag alle noch zeitiger aufgestanden, und die Hauptstraße hatte, obwohl sie von Menschen wimmelte, etwas ganz Unheilvolles, als ginge es zu einer Hinrichtung. Beim Krämer debattierte man über Hippolytes Krankheit; in den Läden wurde nichts verkauft, und Madame Tuvache, die Frau des Bürgermeisters, rührte sich keinen Augenblick von ihrem Fenster, so ungeduldig erwartete sie den Operateur.
Er kam in seinem Kabriolett, das er eigenhändig lenkte. Die Federung auf der rechten Seite war jedoch mit der Zeit erschlafft unter dem Gewicht seiner Leibesfülle, darum neigte sich der Wagen ein wenig beim Fahren, und man sah auf dem anderen Kissen neben ihm einen geräumigen Kasten, überzogen mit rotem Schafleder, und seine drei Messingschlösser funkelten meisterlich.
Nachdem er wie ein Wirbelwind in die Hofeinfahrt des Lion d’or gebraust war, befahl der Doktor mit lautem Geschrei sein Pferd auszuspannen, dann ging er in den Stall und kontrollierte, ob es wohl seinen Hafer fraß; wenn er zu seinen Patienten kam, sorgte er sich nämlich zuallererst um seine Stute und sein Kabriolett. Darum hieß es auch: »Oh! Monsieur Canivet, der ist ein Original!« Und man schätzte ihn noch mehr wegen dieser unerschütterlichen Forschheit. Das Universum hätte krepieren können bis auf den letzten Mann, nicht der kleinsten seiner Gewohnheiten wäre er untreu geworden.
Homais erschien.
»Ich zähle auf Sie«, sagte der Doktor. »Sind wir bereit? An die Arbeit!«
Der Pharmazeut freilich errötete und gestand, er sei viel zu empfindsam, um einer solchen Operation beizuwohnen.
»Wenn man bloß Zuschauer ist«, sagte er, »wird die Phantasie erhitzt, wissen Sie! Und mein Nervensystem ist dermaßen …«
»Ach was!« unterbrach Canivet, »mir scheint, Sie neigen viel eher zum Schlagfluss. Und das wundert mich gar nicht; denn ihr Herren Apotheker steckt ja dauernd in eurer Küche, und das schlägt sich am Ende auf die Konstitution. Schauen Sie mich an: jeden Tag steh ich auf um vier, ich rasiere mich mit kaltem Wasser (mir ist nie kalt), und ich trage keine Flanellunterwäsche, ich bekomme nie einen Schnupfen, das Gerippe ist gut! Ich lebe mal auf die eine Art, mal auf die andere, philosophisch, wie’s der Zufall will. Darum bin ich auch nicht so zimperlich wie Sie, und es ist mir vollkommen gleich, ob ich einen Christenmenschen tranchiere oder hergelaufenes
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