Madame Bovary
fühlte, wie ihr
durch die alten Erinnerungen die Seele dahinschwand, so wie zu Tode
Verwundete ihr Leben mit dem Blute ihrer Wunde hinströmen
fühlen.
Die Nacht brach herein. Raben flogen.
Es schien ihr plötzlich, als sausten feurige Kugeln durch die
Luft. Sie kreisten und kreisten, um schließlich im Schnee zwischen
den kahlen Ästen der Bäume zu zergehen. In jeder erschien Rudolfs
Gesicht. Sie wurden immer zahlreicher; sie kamen immer näher; sie
bedrohten sie. Da, plötzlich waren sie alle verschwunden … Jetzt
erkannte sie die Lichter der Häuser, die von ferne durch den Nebel
schimmerten.
Nun ward sie sich auch wieder ihrer Not bewußt, ihres tiefen
Elends. Ihr klopfendes Herz schien ihr die Brust zersprengen zu
wollen … Aber mit einem Male füllte sich ihre Seele mit einem
beinahe freudigen Heldenmut, und so schnell sie konnte, lief sie
den Abhang hinunter, überschritt die Planke über dem Bach, eilte
durch die Allee, an den Hallen vorbei, bis sie vor der Apotheke
stand.
Es war niemand im Laden. Sie wollte eintreten, aber das Geräusch
der Klingel hätte sie verraten können. Deshalb ging sie durch die
Haustüre; kaum atmend, tastete sie an der Wand der Hausflur hin bis
zur Küchentüre. Drinnen brannte eine Kerze über dem Herd. Justin,
in Hemdsärmeln, trug gerade eine Schüssel durch die andere Tür
hinaus.
»So! Man ist bei Tisch. Ich will warten«, sagte sie sich.
Als er zurückkam, klopfte sie gegen die Scheibe der
Küchentüre.
Er kam heraus.
»Den Schlüssel! Den von oben, wo die….«
Er sah sie an und erschrak über ihr blasses Gesicht, das sich
vom Dunkel der Nacht grell abhob. Sie kam ihm überirdischschön vor und hoheitsvoll wie eine Fee. Ohne zu
begreifen, was sie wollte, ahnte er doch etwas Schreckliches.
Sie begann wieder, hastig, aber mit sanfter Stimme, die ihm das
Herz rührte:
»Ich will ihn haben! Gib ihn mir!«
Durch die dünne Wand hörte man das Klappern der Gabeln auf den
Tellern im Eßzimmer.
Sie gebrauche etwas, um die Ratten zu töten, die sie nicht
schlafen ließen.
»Ich müßte den Herrn Apotheker rufen.«
»Nein! Nicht!« Und in gleichgültigem Tone setzte sie hinzu: »Das
ist nicht nötig. Ich werd es ihm nachher selber sagen. Leucht mir
nur!« Sie trat in den Gang, von dem aus man in das Laboratorium
gelangte. An der Wand hing ein Schlüssel mit einem Schildchen:
»Kapernaum.«
»Justin!« rief drinnen der Apotheker, dem der Lehrling zu lange
wegblieb.
»Gehn wir hinauf!« befahl Emma.
Er folgte ihr.
Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Sie stürzte nach links,
griff nach dem dritten Wandbrett – ihr Gedächtnis führte sie
richtig – , hob den Deckel der blauen Glasbüchse, faßte mit der
Hand hinein und zog die Faust voll weißen Pulvers heraus, das sie
sich schnell in den Mund schüttete.
»Halten Sie ein!« schrie Justin, ihr in die Arme fallend.
»Still! Man könnte kommen!«
Er war verzweifelt und wollte um Hilfe rufen.
»Sag nichts davon! Man könnte deinen Herrn zur Verantwortung
ziehen!«
Dann ging sie hinaus, plötzlich voller Frieden, im seligen
Gefühle, eine Pflicht erfüllt zu haben.
Kapitel 9
Emma hatte eben das Haus verlassen, als Karl heimkam. Die
Nachricht von der Pfändung traf ihn wie ein Keulenschlag. Dazu
seine Frau fort! Er schrie, weinte und fiel in Ohnmacht. Was nützte
das? Wo konnte sie nur sein? Er schickte Felicie zu Homais, zu
Tüvache, zu Lheureux, nach dem Goldenen Löwen, überallhin. Und
mitten in seiner Angst um Emma quälte ihn der Gedanke, daß sein
guter Ruf vernichtet, ihr gemeinsames Vermögen verloren und die
Zukunft Bertas zerstört sei. Und warum? Keine Erklärung! Er wartete
bis sechs Uhr abends. Endlich hielt ers nicht mehr aus, und da er
vermutete, sie sei nach Rouen gefahren, ging er ihr auf der
Landstraße eine halbe Wegstunde weit entgegen. Niemand kam. Er
wartete noch eine Weile und kehrte dann zurück.
Sie war zu Haus.
»Was ist das für eine Geschichte? Wie ist das gekommen? Erklär
es mir!«
Sie saß an ihrem Schreibtisch und beendete gerade einen Brief,
den sie langsam versiegelte, nachdem sie Tag und Stunde darunter
gesetzt hatte. Dann sagte sie in feierlichem Tone:
»Du wirst ihn morgen lesen! Bis dahin bitte ich dich, keine
einzige Frage an mich zu richten! Keine, bitte!«
»Aber….«
»Ach, laß mich!«
Sie legte sich lang auf ihr Bett.
Ein bitterer Geschmack im Munde weckte sie auf. Sie sah Karl …
verschwommen … und schloß die Augen wieder.
Sie beobachtete sich
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