Madame Bovary
aufmerksam, um Schmerzen festzustellen.
Nein, sie fühlte noch keine! Sie hörte den Pendelschlag der
Uhr, das Knistern des Feuers und Karls
Atemzüge, der neben ihrem Bett stand.
»Ach, der Tod ist gar nichts Schlimmes!« dachte sie. »Ich werde
einschlafen, und dann ist alles vorüber!«
Sie trank einen Schluck Wasser und drehte sich der Wand zu.
Der abscheuliche Tintengeschmack war immer noch da.
»Ich habe Durst! Großen Durst!« seufzte sie.
»Was fehlt dir denn?« fragte Karl und reichte ihr ein Glas.
»Es ist nichts!… Mach das Fenster auf!… Ich ersticke!«
Ein Brechreiz überkam sie jetzt so plötzlich, daß sie kaum noch
Zeit hatte, ihr Taschentuch unter dem Kopfkissen
hervorzuziehen.
»Nimms weg!« sagte sie nervös. »Wirfs weg!«
Er fragte sie aus, aber sie antwortete nicht. Sie lag
unbeweglich da, aus Furcht, sich bei der geringsten Bewegung
erbrechen zu müssen. Inzwischen fühlte sie eine eisige Kälte von
den Füßen zum Herzen hinaufsteigen.
»Ach,« murmelte sie, »jetzt fängt es wohl an?«
»Was sagst du?«
Sie warf den Kopf in unterdrückter Unruhe hin und her.
Fortwährend öffnete sie den Mund, als läge etwas Schweres auf ihrer
Zunge. Um acht Uhr fing das Erbrechen wieder an.
Karl bemerkte auf dem Boden des Napfes einen weißen
Niederschlag, der sich am Porzellan ansetzte.
»Sonderbar! Sonderbar!« wiederholte er.
Aber sie sagte mit fester Stimme:
»Nein, du irrst dich!«
Da fuhr er ihr mit der Hand zart, wie liebkosend, bis in die
Magengegend und drückte da. Sie stieß einen schrillen Schrei aus.
Er wich erschrocken zurück.
Dann begann sie zu wimmern, zuerst nur leise. Ein
Schüttelfrost überfiel sie. Sie wurde
bleicher als das Bettuch, in das sich ihre Finger krampfhaft
einkrallten. Ihr unregelmäßiger Pulsschlag war kaum noch fühlbar.
Kalte Schweißtropfen rannen über ihr bläulich gewordnes Gesicht;
etwas wie ein metallischer Ausschlag lag über ihren erstarrten
Zügen. Die Zähne schlugen ihr klappernd aufeinander. Ihre
erweiterten Augen blickten ausdruckslos umher. Alle Fragen, die man
an sie richtete, beantwortete sie nur mit Kopfnicken. Zwei- oder
dreimal lächelte sie freilich. Allmählich wurde das Stöhnen
heftiger. Ein dumpfes Geheul entrang sich ihr. Dabei behauptete
sie, daß es ihr besser gehe und daß sie sofort aufstehen würde.
Sie verfiel in Zuckungen. Sie schrie:
»Mein Gott, ist das gräßlich!«
Karl warf sich vor ihrem Bett auf die Knie.
»Sprich! Was hast du gegessen? Um Gottes willen, antworte
mir!«
Er sah sie an mit Augen voller Zärtlichkeit, wie Emma keine je
geschaut hatte.
»Ja … da … da … lies!« stammelte sie mit versagender Stimme.
Er stürzte zum Schreibtisch, riß den Brief auf und las laut:
»Man klage niemanden an….« Er hielt inne, fuhr sich mit der Hand
über die Augen und las stumm weiter….
»Vergiftet!«
Er konnte immer nur das eine Wort herausbringen:
»Vergiftet! Vergiftet!«
Dann rief er um Hilfe.
Felicie lief zu Homais, der es aller Welt ausposaunte. Frau
Franz im Goldenen Löwen erfuhr es. Manche standen aus ihren Betten
auf, um es ihren Nachbarn mitzuteilen. Die ganze Nacht hindurch war
der halbe Ort wach.
Halb von Sinnen, vor sich hinredend, nahe am Hinfallen, lief
Karl im Zimmer umher, wobei er an die Möbel anrannte und sich Haare
ausraufte. Der Apotheker hatte noch nie ein so fürchterliches
Schauspiel gesehen.
Er ging nach Hause, um an den Doktor Canivet und den Professor
Larivière zu schreiben. Er hatte selber den Kopf verloren. Er
brachte keinen vernünftigen Brief zustande. Schließlich mußte sich
Hippolyt nach Neufchâtel aufmachen, und Justin ritt auf Bovarys
Pferd nach Rouen. Am Wilhelmswalde ließ er den Gaul lahm und
halbtot zurück.
Karl wollte in seinem Medizinischen Lexikon nachschlagen, aber
er war nicht imstande zu lesen. Die Buchstaben tanzten ihm vor den
Augen.
»Ruhe!« sagte der Apotheker. »Es handelt sich einzig und allein
darum, ein wirksames Gegenmittel anzuwenden. Was war es für ein
Gift?«
Karl zeigte den Brief. Es wäre Arsenik gewesen.
»Gut!« versetzte Homais. »Wir müssen eine Analyse machen!«
Er hatte nämlich gelernt, daß man bei allen Vergiftungen eine
Analyse machen müsse. Bovary hatte in seiner Angst alle
Gelehrsamkeit vergessen. Er erwiderte ihm:
»Ja! Machen Sie eine. Tun Sie es! Retten Sie sie!«
Dann kehrte er in ihr Zimmer zurück, warf sich auf die Diele,
lehnte den Kopf gegen den Rand ihres Bettes und schluchzte.
»Weine nicht!«
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