Madame Bovary
Priester erhob sich und ergriff das Kruzifix. Da reckte sie
den Kopf in die Höhe, wie ein Durstiger, und preßte auf das Symbol
des Gott-Menschen mit dem letzten Rest ihrer Kraft den innigsten
Liebeskuß, den sie jemals gegeben hatte. Dann sprach der Geistliche
das
Misereatur
und
Indulgentiam
,
tauchte seinen rechten Daumen in das Öl und nahm die letzte Ölung
vor. Zuerst salbte er die Augen, die es nach allem Herrlichen auf
Erden so heiß gelüstet; dann die
Nasenflügel, die so gern die lauen Lüfte und die Düfte der Liebe
eingesogen; dann den Mund, der so oft zu Lügen sich aufgetan, oft
hoffärtig gezuckt und in sündigem Girren geseufzt hatte; dann die
Hände, die sich an vergnüglichen Berührungen ergötzt hatten; und
endlich die Sohlen der Füße, die einst so flink waren, wenn sie zur
Stillung von Begierden liefen, und die jetzt keinen Schritt mehr
tun sollten.
Der Priester trocknete sich die Hände, warf das ölgetränkte
Stück Watte ins Feuer und setzte sich wieder zu der Sterbenden. Er
sagte ihr, daß ihre Leiden nunmehr mit denen Jesu Christi eins
seien. Sie solle der göttlichen Barmherzigkeit vertrauen.
Als er mit seiner Tröstung zu Ende war, versuchte er, ihr eine
geweihte Kerze in die Hand zu drücken, das Symbol der himmlischen
Glorie, von der sie nun bald umstrahlt sein sollte. Aber Emma war
zu schwach, um die Finger zu schließen, und wenn Bournisien nicht
rasch wieder zugegriffen hätte, wäre die Kerze zu Boden
gefallen.
Emma war nicht mehr so bleich wie erst. Ihr Gesicht hatte den
Ausdruck heiterer Glückseligkeit angenommen, als ob das Sakrament
sie wieder gesund gemacht hätte.
Der Priester verfehlte nicht, die Umstehenden darauf
hinzuweisen, ja er gemahnte Bovary daran, daß der Herr zuweilen das
Leben Sterbender wieder verlängere, wenn er es zum Heil ihrer Seele
für notwendig erachte. Karl dachte an den Tag zurück, an dem sie
schon einmal, dem Tode nahe, die letzte Ölung empfangen hatte.
»Vielleicht brauche ich noch nicht zu verzweifeln!« dachte
er.
Wirklich sah sie sich langsam um wie jemand, der aus einem Traum
erwacht. Dann verlangte sie mit deutlicher Stimme ihren Spiegel und
betrachtete darin eine Weile ihr Bild, bis ihr die Tränen aus den Augen rollten. Darnach legte sie den
Kopf zurück, stieß einen Seufzer aus und sank in das Kissen.
Ihre Brust begann alsbald heftig zu keuchen. Die Zunge trat weit
aus dem Munde. Die Augen begannen zu rollen und ihr Licht zu
verlieren wie zwei Lampenglocken, hinter denen die Flammen
verlöschen. Man hätte glauben können, sie sei schon tot, wenn ihre
Atmungsorgane nicht so fürchterlich heftig gearbeitet hätten. Es
war, als schüttle sie ein wilder innerer Sturm, als ringe das Leben
gewaltig mit dem Tode.
Felicie kniete vor dem Kruzifix, und sogar der Apotheker knickte
ein wenig die Beine, während Canivet gleichgültig auf den Markt
hinausstarrte. Bournisien hatte wieder zu beten begonnen, die Stirn
gegen den Rand des Bettes geneigt, weit hinter sich die lange
schwarze Soutane. An der andern Seite des Bettes kniete Karl und
streckte beide Arme nach Emma aus. Er ergriff ihre Hände und
drückte sie! Bei jedem Schlag ihres Pulses zuckte er zusammen, als
stürze eine Ruine auf ihn.
Je stärker das Röcheln wurde, um so mehr beschleunigte der
Priester seine Gebete. Sie mischten sich mit dem erstickten
Schluchzen Bovarys, und zuweilen vernahm man nichts als das dumpfe
Murmeln der lateinischen Worte, das wie Totengeläut klang.
Plötzlich klapperten draußen auf der Straße Holzschuhe. Ein
Stock schlug mehrere Male auf, und eine Stimme erhob sich, eine
rauhe Stimme, und sang:
'Wenns Sommer worden weit und breit,
Wird heiß das Herze mancher Maid….'
Emma richtete sich ein wenig auf, wie eine Leiche, durch die ein
elektrischer Strom geht. Ihr Haar hatte sich gelöst, ihre
Augensterne waren starr, ihr Mund stand weit auf.
'Nanette ging hinaus ins
Feld,
Zu sammeln, was die Sense fällt.
Als sie sich in der Stoppel bückt,
Da ist passiert, was sich nicht schickt….'
»Der Blinde!« schrie sie.
Sie brach in Lachen aus, in ein furchtbares, wahnsinniges,
verzweifeltes Lachen, weil sie in ihrer Phantasie das scheußliche
Gesicht des Unglücklichen sah, wie ein Schreckgespenst aus der
ewigen Nacht des Jenseits….
'Der Wind, der war so stark … O weh!
Hob ihr die Röckchen in die Höh.'
Ein letzter Krampf warf sie in das Bett zurück. Alle traten
hinzu. Sie war nicht mehr.
Kapitel 10
Nach dem Tode eines Menschen
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