Madame Bovary
Manchmal küßte er sie tüchtig auf die
Wangen, oder er reihte eine Menge kleiner Küsse gleichsam
aneinander, die ihren nackten Arm in seiner ganzen Länge von den
Fingerspitzen bis hinauf zur Schulter bedeckten. Sie wehrte ihn ab,
lächelnd und gelangweilt, wie man ein kleines Kind zurückdrängt,
das sich an einen anklammert.
Vor der Hochzeit hatte sie fest geglaubt, Liebe zu ihrem Karl zu
empfinden. Aber als das Glück, das sie aus dieser Liebe erwartete,
ausblieb, da mußte sie sich doch getäuscht haben. So dachte sie.
Und sie gab sich, Mühe, zu ergrübeln, wo eigentlich in der
Wirklichkeit all das Schöne sei, das in den Romanen mit den Worten
Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch so verlockend geschildert
wird.
Kapitel 6
Emma hatte »Paul und Virginia« gelesen und in ihren Träumereien
alles vor sich gesehen: die Bambushütte, den Neger Domingo, den
Hund Fidelis. Insbesondre hatte sie sich in die zärtliche
Freundschaft irgendeines guten Kameraden hineingelebt, der für sie
rote Früchte auf überturmhohen Bäumen pflückte und barfuß durch den
Sand gelaufen kam, ihr ein Vogelnest zu bringen.
Als sie dreizehn Jahre alt war, brachte ihr Vater sie zur Stadt,
um sie in das Kloster zu geben. Sie stiegen in einem Gasthofe im
Viertel Saint-Gervais ab, wo sie beim Abendessen Teller vorgesetzt
bekamen, auf denen Szenen aus dem Leben des Fräuleins von
Lavallière gemalt waren. Alle diese legendenhaften Bilder, hier und
da von Messerkritzeln beschädigt, verherrlichten Frömmigkeit,
Gefühlsüberschwang und höfischen Prunk.
In der ersten Zeit ihres Klosteraufenthalts langweilte sie sich
nicht im geringsten. Sie fühlte sich vielmehr in der Gesellschaft
der gütigen Schwestern ganz behaglich, und es war ihr ein
Vergnügen, wenn man sie mit in die Kapelle nahm, wohin man vom
Refektorium durch einen langen Kreuzgang gelangte. In den
Freistunden spielte sie nur höchst selten, im Katechismus war sie
alsbald sehr bewandert, und auf schwierige Fragen war sie es, die
dem Herrn Pfarrer immer zu antworten wußte. So lebte sie, ohne in
die Welt hinauszukommen, in der lauen Atmosphäre der Schulstuben
und unter den blassen Frauen mit ihren Rosenkränzen und
Messingkreuzchen, und langsam versank sie in den mystischen
Traumzustand, der sich um die Weihrauchdüfte, die Kühle der
Weihwasserbecken und den Kerzenschimmer webt. Statt der Messe
zuzuhören, betrachtete sie die frommen himmelblau umränderten
Vignetten ihres Gebetbuches und verliebte
sich in das kranke Lamm Gottes, in das von Pfeilen durchbohrte Herz
Jesu und in den armen Christus selber, der, sein Kreuz schleppend,
zusammenbricht. Um sich zu kasteien, versuchte sie, einen ganzen
Tag lang ohne Nahrung auszuhalten. Sie zerbrach sich den Kopf, um
irgendein Gelübde zu ersinnen, das sie auf sich nehmen wollte.
Wenn sie zur Beichte ging, erfand sie allerlei kleine Sünden,
nur damit sie länger im Halbdunkel knien durfte, die Hände
gefaltet, das Gesicht ans Gitter gepreßt, unter dem flüsternden
Priester. Die Gleichnisse vom Bräutigam, vom Gemahl, vom
himmlischen Geliebten und von der ewigen Hochzeit, die in den
Predigten immer wiederkehrten, erweckten im Grunde ihrer Seele
geheimnisvolle süße Schauer.
Abends, vor dem Ave-Maria, ward im Arbeitssaal aus einem frommen
Buche vorgelesen. An den Wochentagen las man aus der Biblischen
Geschichte oder aus den «Stunden der Andacht» des Abbé Frayssmous
und Sonntags zur Erbauung aus Chateaubriands «Geist des
Christentums». Wie andachtsvoll lauschte sie bei den ersten Malen
den klangreichen Klagen romantischer Schwermut, die wie ein Echo
aus Welt und Ewigkeit erschallten! Wäre Emmas Kindheit im
Hinterstübchen eines Kramladens in einem Geschäftsviertel
dahingeflossen, dann wäre das junge Mädchen vermutlich der
Naturschwärmerei verfallen, die zumeist in literarischer Anregung
ihre Quelle hat. So aber kannte sie das Land zu gut: das Blöken der
Herden, die Milch- und Landwirtschaft. An friedsame Vorgänge
gewöhnt, gewann sie eine Vorliebe für das dem Entgegengesetzte: das
Abenteuerliche. So liebte sie das Meer einzig um der wilden Stürme
willen und das Grün, nur wenn es zwischen Ruinen sein Dasein
fristete. Es war ihr ein Bedürfnis, aus den Dingen einen
egoistischen Genuß zu schöpfen, und sie warf alles als unnütz
beiseite, was nicht unmittelbar zum Labsal
ihres Herzens diente. Ihre Eigenart war eher sentimental als
ästhetisch; sie spürte lieber seelischen Erregungen als
Landschaften
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