Madame Bovary
zu
dem leeren Lusthäuschen, das an der Ecke der Parkmauer steht, wo
die Felder beginnen. Dort wuchs in einem Graben zwischen
gewöhnlichen Gräsern hohes Schilf mit langen scharfen Blättern.
Jedesmal, wenn sie dahin kam, sah sie zuerst nach, ob sich seit ihrem letzten Hiersein etwas verändert
habe. Es war immer alles so, wie sie es verlassen hatte. Alles
stand noch auf seinem Platze: die Heckenrosen und die wilden
Veilchen, die Brennesseln, die in Büscheln die großen Kieselsteine
umwucherten, und die Moosflächen unter den drei Pavillonfenstern
mit ihren immer geschlossenen morschen Holzläden und rostigen
Eisenbeschlägen. Nun schweiften Emmas Gedanken ins Ziellose ab, wie
die Sprünge ihres Windspiels, das sich in großen Kreislinien
tummelte, gelbe Schmetterlinge ankläffte, Feldmäusen nachstellte
und die Mohnblumen am Raine des Kornfeldes anknabberte. Allmählich
gerieten ihre Grübeleien in eine bestimmte Richtung. Wenn die junge
Frau so im Grase saß und es mit der Stockspitze ihres
Sonnenschirmes ein wenig aufwühlte, sagte sie sich immer wieder:
»Mein Gott, warum habe ich eigentlich geheiratet?«
Sie legte sich die Frage vor, ob es nicht möglich gewesen wäre
durch irgendwelche andre Fügung des Schicksals, daß sie einen
andern Mann hätte finden können. Sie versuchte sich vorzustellen,
was für ungeschehene Ereignisse dazu gehört hätten, wie dieses
andre Leben geworden wäre und wie der ungefundne Gatte ausgesehen
hätte. In keinem Falle so wie Karl! Er hätte elegant, klug,
vornehm, verführerisch aussehen müssen; so wie zweifellos die
Männer, die ihre ehemaligen Klosterfreundinnen alle geheiratet
hatten…. Wie es denen wohl jetzt erging? In der Stadt, im Getümmel
des Straßenlebens, im Stimmengewirr der Theater, im Lichtmeere der
Bälle, da lebten sie sich aus und ließen die Herzen und Sinne nicht
verdorren. Sie jedoch, sie verkümmerte wie in einem Eiskeller, und
die Langeweile spann wie eine schweigsame Spinne ihre Weben in
allen Winkeln ihres sonnelosen Herzens.
Die Tage der Preisverteilung traten ihr in die Erinnerung. Sie
sah sich auf das Podium steigen, wo sie ihre kleinen
Auszeichnungen ausgehändigt bekam. Mit
ihrem Zopf, ihrem weißen Kleid und ihren Lack-Halbschuhen hatte sie
allerliebst ausgesehen, und wenn sie zu ihrem Platze zurückging,
hatten ihr die anwesenden Herren galant zugenickt. Der Klosterhof
war voller Kutschen gewesen, und durch den Wagenschlag hatte man
ihr »Auf Wiedersehn!« zugerufen. Und der Musiklehrer, den
Violinkasten in der Hand, hatte im Vorübergehen den Hut vor ihr
gezogen…. Wie weit zurück war das alles! Ach, wie so weit!
Sie rief Djali, nahm ihn auf den Schoß und streichelte seinen
schmalen feinlinigen Kopf.
»Komm!« flüsterte sie. »Gib Frauchen einen Kuß! Du, du hast
keinen Kummer!«
Dabei betrachtete sie das ihr wie wehmütig aussehende Gesicht
des schlanken Tieres. Es gähnte behaglich. Aber sie bildete sich
ein, das Tier habe auch einen Kummer. Die Rührung überkam sie, und
sie begann laut mit dem Hunde zu sprechen, genau so wie zu
jemandem, den man in seiner Betrübnis trösten will.
Zuweilen blies ruckweiser Wind, der vom Meere herkam und mächtig
über das ganze Hochland von Caux strich und weit in die Lande
hinein salzige Frische trug. Das Schilf bog sich pfeifend zu Boden,
fliehende Schauer raschelten durch das Blätterwerk der Buchen,
während sich die Wipfel rastlos wiegten und in einem fort laut
rauschten. Emma zog ihr Tuch fester um die Schultern und erhob
sich.
In der Allee, über dem teppichartigen Moos, das unter Emmas
Tritten leise knisterte, spielten Sonnenlichter mit den grünen
Reflexen des Laubdaches. Das Tagesgestirn war im Versinken; der
rote Himmel flammte hinter den braunen Stämmen, die in Reih und
Glied kerzengerade dastanden und den Eindruck eines Säulenganges an
einer goldnen Wand entlang erzeugten.
Emma ward bang zumute. Sie rief den Hund heran und beeilte sich, auf die Landstraße und heimzukommen. Zu
Hause sank sie in einen Lehnstuhl und sprach den ganzen Abend kein
Wort.
Da, gegen Ende des Septembers, geschah etwas ganz Besonderes in
ihrem Leben. Bovarys bekamen eine Einladung nach Vaubyessard, zu
dem Marquis von Andervilliers. Der Marquis, der unter der
Restauration Staatssekretär gewesen war, wollte von neuem eine
politische Rolle spielen. Seit langem bereitete er seine Wahl in
das Abgeordnetenhaus vor. Im Winter ließ er große Mengen Holz
verteilen, und im Bezirksausschuß trat er immer
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