Madame Bovary
Wechselfieber, aber
im großen und ganzen selten schwere Krankheiten. Besonders zu
erwähnen sind die zahlreichen skrofulösen Leiden, die zweifellos
von den kläglichen hygienischen Verhältnissen in den Bauernhäusern
herrühren. Ja, ja, Herr Bovary, Sie werden öfters mit altmodischen
Ansichten zu kämpfen haben, und vielfach werden Dickköpfigkeit und
alter Schlendrian alle Anstrengungen Ihrer Kunst
zunichte machen. Denn die Leute
hierzulande versuchen es in ihrer Dummheit immer noch erst mit
Beten, mit Reliquien und mit dem Pfarrer, statt daß sie von
vornherein zum Arzt oder in die Apotheke gingen. Im übrigen ist das
Klima wirklich nicht schlecht. Wir haben sogar etliche
Neunzigjährige in der Gemeinde. Nach meinen Beobachtungen ist die
Maximalkälte im Winter 4° Celsius, während wir im Hochsommer auf
25°, höchstens 30° kommen. Das wäre ein Maximum von 24° Reaumur.
Das ist nicht viel. Das kommt aber daher, daß wir einerseits vor
den Nordwinden durch die Wälder von Argueil, andrerseits vor den
Westwinden durch die Höhe von Sankt Johann geschützt sind. Diese
Wärme, die ihre Ursachen auch in der Wasserverdunstung des Flusses
und in den zahlreich vorhandenen Viehherden in den Weidegebieten
hat, die, wie Sie wissen, viel Ammoniak produzieren (also
Stickstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, ach nein, nur Stickstoff
und Sauerstoff!), – diese Wärme, die den Humus aussaugt und alle
Dünste des Bodens aufnimmt, sich gleichsam zu einer Wolke
zusammenballt und sich mit der Elektrizität der Atmosphäre
verbindet, die könnte schließlich (wie in den Tropenländern)
gesundheitsschädliche Miasmen erzeugen – , diese Wärme, sag ich,
wird gerade dort, wo sie herkommt, oder vielmehr, wo sie herkommen
könnte, das heißt im Süden, durch die Südostwinde abgekühlt, die
ihre Kühle über der Seine erlangen und bei uns bisweilen plötzlich
als sanftes Mailüfterl wehen …«
»Gibt es denn wenigstens ein paar Spazierwege in der Umgegend?«
fragte Frau Bovary im Laufe ihres Gespräches mit dem jungen
Manne.
»Leider nur sehr wenige«, entgegnete er. »Einen hübschen Ort
gibt es auf der Höhe, am Waldrande, der 'Futterplatz' genannt. Dort
sitze ich manchmal Sonntags und vertiefe mich in ein Buch und seh
mir den Sonnenuntergang an.«
»Es gibt nichts Wunderbareres als den
Sonnenuntergang,« schwärmte Emma, »zumal am Gestade des
Meeres!«
»Ach, ich bete das Meer an!« stimmte Leo bei.
»Haben Sie nicht auch die Empfindung,« fuhr Frau Bovary fort,
»daß die Seele beim Anblicke dieser unermeßlichen Weite Flügel
bekommt, die Flügel der Andacht, die ins Reich der Ewigkeiten
emporheben, in die Sphäre der Ideen, der Ideale?«
»Im Hochgebirge ergeht es einem ebenso«, meinte Leo. »Ich habe
einen Vetter, der im vergangnen Jahre eine Schweizerreise gemacht
hat. Der hat mir erzählt: ohne sie selber zu sehen, könne man sich
den romantischen Reiz der Seen gar nicht vorstellen, den Zauber der
Wasserfälle und den großartigen Eindruck der Gletscher. Über
Gießbächen hängen riesige Fichten, und am Rande von tiefen
Abgründen kleben Alpenhütten; und wenn die Wolken einmal zerreißen,
erblickt man tausend Fuß unten in der Tiefe die langen Täler. Wer
das schaut, muß in Begeisterung geraten, in Andachtsstimmung, in
Ekstase! Jetzt begreife ich auch jenen berühmten Musiker, der nur
angesichts von erhabenen Landschaften arbeiten konnte.«
»Treiben Sie Musik?« fragte Emma.
»Nein, aber ich liebe die Musik!« antwortete er.
»Glauben Sie ihm das nicht, Frau Doktor!« mischte sich Homais
ein. »Das sagt er nur aus purer Bescheidenheit…. Aber gewiß, mein
Verehrter! Gestern, in Ihrem Zimmer, da haben Sie doch
das
Engellied
wundervoll gesungen. Ich hab es
von meinem Laboratorium aus gehört. Sie haben eine Stimme wie ein
Opernsänger!«
Leo Dúpuis bewohnte nämlich im Hause des Apothekers im zweiten
Stock ein kleines Zimmer, das nach dem Markt hinausging. Bei dem
Komplimente seines Hauswirtes wurde er über und über rot.
Homais widmete sich bereits wieder dem
Arzte, dem er die bemerkenswerten Einwohner von Yonville einzeln
aufzählte. Er wußte tausend Anekdoten und Einzelheiten. Nur über
das Vermögen des Notars könne er nichts Genaues sagen. Auch über
die Familie Túvache munkele man so allerlei.
Emma fuhr fort:
»Das ist ja entzückend! Und welche Musik lieben Sie am
meisten?«
»Die deutsche! Die ist das wahre Traumland …«
»Kennen Sie die Italiener?«
»Noch nicht. Aber ich werde sie
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