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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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an Bord eines Schiffes nach England zurückkehren würde, wo »das Leben kompliziert war«, wie er eines Tages leise gesagt hatte. Aber Worte wie »abreisen« oder »nach Hause fahren« tauchten in ihren Unterhaltungen nicht auf, auch wenn es Momente gab, in denen er sie an sich zog und voller Bedauern seufzte oder sie kurz vor dem Einschlafen küsste und ihren Hals streichelte – einen Hals, der nicht mehr so glatt und straff war wie früher. In solchen Momenten erlaubte sich Nancy den Gedanken, dass er sie eines Tages vielleicht fragen würde, was sie von einem Besuch in England hielt. Aber er tat es nicht. Er erzählte ihr von Italien, der seltsamen Mischung aus Wolle und Kunst und Geschichte in Florenz, brachte ihr bei, wie man ein ragù würzte. Sein Heimatland blieb unerforscht, allerdings führte er sie in die englische Lyrik ein. Im Gegenzug machte sie ihn mit Robert Frost und Wallace Stevens bekannt. Nicht mit Whitman.
    Vom Bett aus konnte Nancy an Charles’ nackter Schulter vorbei auf die Straße vor dem Fenster sehen. Sie hatten einen schönen Abend verbracht: ein Drink in der Bar, der Spaziergang zu seiner Wohnung. Anschließend waren sie ohne Umwege im Schlafzimmer gelandet, das taten sie jetzt meistens. Sie hatten sich geliebt, und bald war es Zeit zum Essen. Sie stellte fest, dass sie Gewohnheiten entwickelt hatten, und der Gedanke gefiel ihr, er verlieh ihrer Beziehung den Anschein von Dauerhaftigkeit.
    Er strich ihre Haare zur Seite und sog die Wärme ihres Halses ein.
    »Danke für das Buch. Das Gedicht über die Amsel hat mir besonders gefallen.«
    »Dreizehn Arten, eine Amsel zu betrachten …«, sagte sie schläfrig.
    Es erinnere ihn an einen japanischen Holzschnitt, erklärte er. Er unterbrach seine Worte mit Küssen und murmelte mit dem Mund an ihrer nackten Schulter, dass er eines Tages selbst einmal nach Japan wolle. »Aber wenn dieser Krieg noch lange dauert, wird es nicht mehr viel zu sehen geben.«
    Nancy spürte, wie Wärme und Wohlbehagen schlagartig verschwanden, und sie drehte sich weg, wickelte sich in die Decke, vergrub das Gesicht in den Kissen. Ich war einmal dort, hätte sie am liebsten gesagt, ich war in Japan und habe nichts gesehen. Nur ein Büro, eine Kirche, eine Rikscha. Ein kleines Haus aus Papier auf einem Hügel und eine Frau in einem weißen Kimono. Ein schreiendes Kind. Ein Frau, die noch immer dort ist, schutzlos unseren Bomben ausgeliefert.
    Einmal in der Woche schrieb sie an Joey, berichtete ihm, was sie gerade las, welche Musik sie hörte. Diese Briefe fielen ihr schwer, die Zensur ließ jede Mitteilung verdächtig erscheinen, selbst wenn es um etwas so Banales wie einen neuen Film ging. Sie erwähnte nichts von dem Ausflug an die Küste, davon, dass sie im Meer geschwommen war, weil sie wusste, das es für jemanden, der von Stacheldraht und Wachttürmen umgeben war, in einer Holzbaracke ohne Fußboden leben musste, schmerzhaft wäre. Was würde aus ihrem fröhlichen, unbeschwerten Joey geworden sein, wenn sie ihn endlich wieder freiließen?
    »Hallo«, murmelte Charles ihr durch das Kissen gedämpft ins Ohr. »Komm zurück, du bist so weit weg.« Taktvoll: »Was hältst du von Abendessen?«
    Das war einer der Momente, in denen sie versucht war, Charles alles zu erzählen, sie hatte das Gefühl, er werde es verstehen. Doch sie hatten stillschweigend ein Übereinkommen getroffen: Sie lebten im Hier und Jetzt, in einer Blase aus Wärme und Geborgenheit. Was draußen war, blieb draußen. Wenn sie sagte: »Ich habe einen Sohn, er befindet sich in einem Gefangenenlager für feindliche Ausländer, und ich bin ganz krank vor Sorge« – Sorge um sein Wohlergehen und dazu die uneingestandene Sorge, dass er ihr entglitt, immer weniger ihr Sohn war und tatsächlich zu einem Fremden wurde … Was würde Charles dann erwidern? Um sie zu trösten, musste er etwas sagen … irgendetwas. Hatte er ebenfalls einen Sohn? Eine Tochter? Hatte er eine Ehefrau? Ganz sicher gab es da ein Leben in England. Und das war kompliziert.
    Sie schmiegte sich wieder in seine Arme, klammerte sich an ihn, an seine Wärme; zog ihn in sich hinein, erfasst von der Angst vor einem weiteren Verlust. Sie passten zusammen wie zwei weiche Puzzleteile, Brust, Bauch, Oberschenkel, Haut an Haut, ihre um ihn geschlungenen Beine.
    »Später«, sagte sie.

Kapitel 45
    BRIEFE VON ZU Hause. An den Tagen, an denen ein Sturm über die Baracken fegte und den Lagerinsassen auf dem Weg in den Speisesaal oder zu den

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