Madame Butterflys Schatten
Das nenne ich mal eine gute Nachricht.«
»Meinst du?«
Bis spät in der Nacht diskutierten seine Barackengenossen über ihre Befürchtungen.
»Das Ganze könnte eine Falle sein.«
»Was denn für eine Falle?«
»Um uns durcheinanderzubringen, Schuldgefühle zu erzeugen, Angst, was weiß ich.«
Joey lag da, atmete gleichmäßig, an Schlaf war nicht zu denken.
Die Unruhe nahm unterschiedliche Formen an: Zusammenkünfte, Meinungsverschiedenheiten, wütende Wortwechsel, Nervosität. Eine Auseinandersetzung bei einem Baseballspiel endete in einem Tumult, zunächst ein kleines Handgemenge, dann eine brutale Schlägerei, als die Soldaten eingriffen. Die Wachen fanden neue Verwendung für die Baseballschläger – »Hey, toll, man braucht für dieses Ballspiel ja gar keinen Ball!« –, und das Geräusch von Holz auf Schädeln gab den Regeln eine neue Bedeutung. Zwei Strikes, und es gab nicht nur ein Out, sondern ein Knock-out. Im Speisesaal wurden Tische umgeworfen, Stühle und Geschirr zertrümmert, Schlachtrufe an die Wand geschrieben. Ein älterer Mann warf sich in stiller Verzweiflung gegen den Stacheldraht. Die Wachen zerrten ihn heraus, zerrissen seine Kleidung und seine Haut. Aus Protestversammlungen wurden wütende Massendemonstrationen. Ein Nebel wutgeschwängerter Unzufriedenheit hüllte das Lager ein.
Dann geschah etwas Merkwürdiges, eine Gegenbewegung zu all der Feindseligkeit setzte ein. Junge Männer traten vor, einige zynisch, andere verzweifelt, um sich freiwillig zum Dienst für ihr Land zu melden.
»Sie wollen beweisen, dass sie echte Amerikaner sind«, sagte Ichir ō resigniert. »›Sie‹ kannst du gegen ›wir‹ austauschen.«
Kapitel 43
DIE BARACKE DES Friseurs schien leer zu sein. Joey blieb am Eingang stehen, und hinter der offen stehenden Tür eines Schranks rief eine Stimme in fragendem Ton: »Ja?«
»Ich wollte mir die Haare schneiden lassen, aber Shiro ist wohl nicht da …«
»Ich mach’ das.«
Sie kam hinter der Tür hervor. Winzig, mit akkurat geschnittenen, lackschwarz glänzenden Haaren. Kühl, ohne zu lächeln, deutete sie auf einen Stuhl, legte Joey ein Handtuch um die Schultern, nahm Kamm und Schere und begann mit flinken Bewegungen zu schneiden.
Joey war leicht beunruhigt: Sie hätte ihn zumindest fragen können, wie er die Haare geschnitten haben wollte. Er lauschte auf das Klappern der Schere, die wie ein hungriges Raubtier nach seinen Haaren schnappte. Vielleicht war sie nur schüchtern, vielleicht sollte er den ersten Schritt machen.
»Du warst also mal Friseuse?«
Sie hielt inne und betrachtete ihn im Spiegel.
»Musst du immer jeden in eine Schublade stecken?«
Ihre Stimme war so kühl wie ihr Blick. Dem Akzent nach Nordkalifornierin. Vermutlich gewohnt, Befehle zu erteilen, dachte Joey.
»Hör mal, ich wollte mich nur ein bisschen unterhalten …« Joey hatte ein schlechtes Gewissen. Sie war zu Recht verärgert und nahm es ihm übel, dass er die falschen Schlüsse zog. Auf der Suche nach einem unverfänglicheren Thema überlegte er laut, ob sie am Abend zuvor im Kino gewesen war.
Schroff erwiderte sie: »Ich mag keine Schwarz-Weiß-Filme.« Schnipp.
»Überhaupt keine?«, fragte Joey ungläubig. »Aber die meisten Filme sind in Schwarz-Weiß.«
»Schwarz-Weiß-Filme sind langweilig.«
»Langweilig?«
»Farbe ist interessanter.« Schnipp.
Er drehte sich zu ihr herum. »Du findest Citizen Kane uninteressant?«
Sie hatte Citizen Kane nicht gesehen. Schnipp, schnipp.
Ihre Haut war so hell wie Milch, ihre Augen so dunkel wie Pflaumen. Er fragte sich, warum er bei ihrem Anblick an Essen denken musste. Er beobachtete ihre blassen Hände, die über seinem Kopf schwebten, die blitzenden Scherenblätter, und es lag ihm auf der Zunge zu fragen, ob sie Schneewittchen und die sieben Zwerge gesehen hatte, der war zumindest in Farbe, aber dann hätte sie vielleicht gemeint, er behandle sie wie ein Kind. Ein schwerer Fehler. Von ihrer Figur war unter der dunklen Hemdbluse nicht viel zu erkennen, aber er sah immerhin, dass sie schlank war, schmale Hüften und lange, schlanke Arme hatte.
»Okay«, sagte Joey vorsichtig. »Was ist mit Spur des Falken ? Der ist zwar schwarz-weiß, aber großartig.«
Plötzlich wurde sie wütend: Es sei ein alberner Film, die Handlung ergebe keinen Sinn, und sie verstehe das Ende nicht.
»Stimmt«, sagte Joey, »das Ende ist ein Problem, aber andererseits hat er den besten Schlusssatz, den ich je in einem Film gehört
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