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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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Duschen Sand ins Gesicht peitschte, strich Joey, allein in seiner Unterkunft, mit den Fingern über das dicke, cremefarbene Papier, das Nancy so gern benutzte, und stellte sie sich schreibend am Küchentisch vor, in dem kleinen Haus in der Straße mit dem Kramladen an der Ecke, auf dessen Eingangsstufen er früher gesessen und zugesehen hatte, wie zerlumpte Männer Sardinen und Cracker gekauft hatten, bevor sie weiterzogen, dem in unendlicher Ferne liegenden Horizont entgegen.
    Lieber Joey …
    Briefe musste man beantworten. Sein Stift schwebte wie immer zögernd über dem Papier. Es gab ungeschriebene Briefe, deren stumme Worte in seinem Kopf widerhallten, verworfen, verändert, ein ums andere Mal verbessert. Das waren rein theoretische Briefe. Kopfgeburten. Es gab andere, geschrieben, aber nicht abgeschickt, kurze Notizen, verzweifelt oder ängstlich, hingekritzelt, zerrissen. Und dann gab es schließlich noch die Briefe, die Joey zu Ende schrieb und dem Briefkasten anvertraute, den Lastwagen, Zügen und Postboten. Das waren die Umschläge, die Nancy öffnete, die Seiten, die sie ein ums andere Mal las.
    Einer davon enthielt die kurze Mitteilung, dass er das Lager verlassen werde.
    Er hatte nie die Absicht gehabt, sich freiwillig zu melden. Wut, Groll, Skepsis gegenüber dem Gesinnungswechsel der Regierung, all das trieb ihn dazu, sich herauszuhalten. In der Baracke fanden bis spät in die Nacht endlose Gespräche statt, wie in den anderen Baracken auch. Kazuo und Taro, die klugen Köpfe, Ichir ō , der Witzbold, Joey, der Sonderling. Diskussionen, Fragen. Was wäre, wenn … oder wenn nicht … Würde es etwas nützen … aber andererseits …
    Hinterher versuchte Joey herauszufinden, was ihn dazu gebracht hatte, seine Meinung zu ändern.
    Zum Teil tat er es für Ben, der sich schuldig gefühlt hatte, weil er der jüngere Bruder war, der nicht in den Krieg ziehen musste, der überlebt hatte. Zum Teil tat er es für eine ganze Menge Leute, die sich für Amerikaner gehalten hatten, bis man sie eines Besseren belehrte, bis sie plötzlich feststellten, dass sie feindliche Ausländer waren. Er wollte sie von diesem Etikett befreien: den Stacheldrahtzaun niederreißen, die Wachen anschreien: »Fehlschluss! Fehlschluss!«
    Auch Eigensinn spielte eine Rolle: Es gefiel ihm nicht, als Schlaumeier bezeichnet zu werden, der sich für zu ausgefuchst hielt, um Kanonenfutter abzugeben. Und dann war da noch der Widerwille gegen seine Umgebung, die Flucht aus der Apathie. Wenn er sich meldete, käme er weg von ihr, egal, wohin. Er brauchte Platz zum Atmen, er war zwanzig Jahre alt, und sein Körper sehnte sich danach, etwas zu tun.
    Der entscheidende Moment kam ohne Vorankündigung: Sie führten in ihrer engen Baracke eine hitzige Debatte. Ichir ō ging auf und ab, Taro und Kazuo saßen auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. Joey, im Schneidersitz auf seinem Bett, wie immer, wenn er nachdachte, hatte nach Stift und Papier gegriffen und kritzelte geistesabwesend vor sich hin – Muster und Schnörkel, geometrische Formen, ineinandergeschachtelte Kästchen. Als die Seite voll war, sah er, dass er ganz unten am Rand ein Rechteck gezeichnet hatte und in eine Ecke davon ein Quadrat mit Punkten. Über das Rechteck zogen sich rote Linien. Die Flagge der Vereinigten Staaten.
    Die wichtigste Zutat in diesem diffusen Gemisch: das uneingestandene Bedürfnis, Teil von etwas zu sein. Dazuzugehören.
    Als er im Zug saß (erneut das Rattern von Rädern auf Gleisen, die Dampfwolken der Lokomotive, alte Lieder und der Nachhall der Reise seines Vaters aus der Ungebundenheit in die Gemeinschaft), wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er ein Lager gegen ein anderes tauschte, eine Form des Drills gegen eine andere, ein Etikett gegen ein anderes: Student, feindlicher Ausländer, Evakuierter, Internierter, Soldat … Sie hatte recht gehabt, die aggressive junge Frau, die ihm die Haare geschnitten hatte: Er hatte die Angewohnheit, Leute in Schubladen zu stecken. Auf jeden Fall machte er das mit sich selbst.
    Er hatte die Geschichte dieses Haarschnitts Ichir ō erzählt.
    »Sie hatte unglaublich miese Laune.«
    »Ach.« Ichir ō schien das lustig zu finden. »Das bedeutet, dass sie dich mag.«
    »Und was tut sie, wenn sie jemanden nicht mag?«
    »Sie ignoriert ihn natürlich.«
    »Ich vermute mal, so macht man das in Japan«, sagte Joey sarkastisch.
    »Jedenfalls macht es Yasuko so. Sie ist wählerisch. Hier im Lager gibt es jede Menge Kerle, die

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