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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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ebenfalls uniformierter Mann.
    »Diese Kategorien«, ruft Joe zu ihm hinüber. »Was unterdrücken wir denn?«
    »Es gibt einunddreißig Themen, die zu vermeiden sind: Kritik an den Besatzungstruppen, Kritik an den Vereinigten Staaten, Kritik an den Alliierten, Schwarzmarktaktivitäten – ist alles aufgelistet.«
    »Im Grunde genommen zensieren wir also …«
    »Alles. Ja. Wir dürfen es nur nicht laut sagen. Sehen Sie, hier, unter ›zu vermeidende Themen‹: Hinweise auf Zensur.«
    Er geht durch die Straßen, skizziert die Ruinen, so wie ein Archäologe anhand der noch vorhandenen Grundmauern eine römische Stadt rekonstruieren würde, und stellt fest, dass das Leben allmählich zurückkehrt. Hier und da heben sich von der grauen Asche helle neue Holzbretter ab, Gebäude wachsen in die Höhe. Von überall her ist das Geräusch schleppender Schritte zu vernehmen: das Klappern von Holzschuhen, das Echo von Stiefeln auf Eisenplatten. Die Leute bewegen sich langsam, sie wirken verstört. Sie tragen ein Sammelsurium an Kleidern: eine paillettenbesetzte Bluse, die aus den Trümmern gerettet wurde, Sommerhosen, Dirndlröcke, zerrissene Kimonos, zu Hemden umfunktionierte Lumpen, Tücher aus Zellstoff, die sich bei Regen auflösen. Junge Exsoldaten schlurfen in zerfetzten Uniformen vorbei, verwirrte Überbleibsel der kaiserlichen Kriegsmaschinerie, die mit Freuden im Kampf gefallen wären und stattdessen dazu verdammt sind weiterzuleben.
    Wasser und Seife sind knapp, was bedeutet, dass die normalerweise sehr auf Reinlichkeit bedachten Bewohner der Stadt mit schmutzigen Gesichtern, dreckverkrusteten Füßen, fleckiger Kleidung, zerrissenen und löchrigen Schuhen herumlaufen, ohne sich darum zu scheren. Die Kinder gehen barfuß.
    An den einstigen großen Durchgangsstraßen sind Stände aus dem Boden geschossen, an denen alles, was sich tragen lässt, verkauft oder getauscht wird – alte Kriegsorden, Taschen aus feinem Leder, von den Flammen versengt und hart geworden, hier ein Militärmantel, dort ein Paar Schuhe, das zu gut zum Anziehen ist. Eine Frau winkt Joe zu sich heran, um ihm ein Beispiel ihrer einfallsreichen Wiederverwertungskünste vorzuführen: zu Kochtöpfen umfunktionierte ausrangierte Militärhelme, »nur sieben Yen das Stück«.
    Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
    Als Kind hatte er die vertrauten Worte in der Kirche gehört, von Helmen hatte Jesaja allerdings nichts gesagt.
    In der bröckelnden Mauer rings um einen breiten Platz stecken schmutzige Papierfetzen mit handgeschriebenen Nachrichten. Er macht sich daran, die kanji -Zeichen zu entziffern, und stößt dabei immer wieder auf das für »Mutter« und »Haus«. Neben ihm deutet ein alter Mann auf ein Zeichen und beginnt zu übersetzen, aber hier bietet sich Joe die Gelegenheit, seine im Ausbildungslager aufpolierten Japanischkenntnisse anzuwenden. Er liest eine der Botschaften laut vor: » Dein Bruder wartet auf dich.« Dann langsam eine zweite: »Deine Mutter wartet jeden Tag bei Sonnenuntergang …«
    Er hat ebenfalls Botschaften geschickt, nicht auf einen Papierfetzen gekritzelt, aber mit derselben Hoffnung auf Antwort. Die Briefe, die Anfragen über den Militärfunk nach Nagasaki gingen an Suzuki, denn ihre Adresse ist die einzige, die er hat.
    Der Regen hat von einigen der Botschaften die Worte abgewaschen, die Tinte ist verschmiert, als wären Tränen darübergelaufen, das im Wind flatternde Papier klingt wie tausend ungehörte Stimmen.
    Seit er hier angekommen ist, kämpft er gegen das Entsetzen an, erneut gestreckt und gevierteilt, in verschiedene Richtungen gezogen. Wo ist sein Platz in diesem toten Land, dem Land seiner Geburt, wo immer noch ein verbrannter Geruch aus den Trümmern aufsteigt? Wo die Menschen verhungern. Gehört er zu den Siegern und den Generälen, oder ist er einer der Besiegten und Getöteten? Wo will er sein? Und wo wäre er jetzt, wenn Nancy ihn an jenem Tag nicht auf den Arm genommen und den Hügel hinuntergetragen hätte?
    Auf den Straßen drängen sich Fahrradrikschas, dazwischen Ochsen- und Pferdefuhrwerke. Ein paar mit Holzkohle betriebene Taxis rasen vorbei, stoßen dicke Rauchwolken aus. Die ganze Stadt scheint in Nebel gehüllt zu sein, und die Leute tragen improvisierte Atemschutzmasken, um die erstickenden Dämpfe abzuwehren. Über Schlaglöcher

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