Madame Butterflys Schatten
Ansprache, die sanfte Stimme, neutrale Worte: Werften, Fabriken, Eisenbahnen, Kommunikationseinrichtungen …
Zu diesem Zeitpunkt hörte Joe nichts von Menschen, die wie Fackeln brannten, bluteten, starben. Die Einzelheiten sickerten erst später durch, schlüpften an MacArthurs Zensoren vorbei, hinausgeschmuggelt von den Presseleuten mit ihren Schreibmaschinen, die der General so sehr verabscheute, als fünfte Kolonne bezeichnete, welche die eigenen Landsleute unterwanderte.
Was Joe damals gehört hatte und was er später erfuhr, war in seinem Kopf eins geworden, betäubte ihn. Zu viele, zu widersprüchliche Informationen. Die atomare Pest. Die Pest, die »seine« Leute »seinen« Leuten gebracht hatten. Und irgendwo dazwischen, unter den Ausgelöschten oder den Überlebenden, befand sich seine Mutter, von der er sich kein Bild mehr machen konnte.
»Ich kann nicht hierbleiben«, sagte er.
Seit vor vielen Jahren der Brief mit dem Foto einer Frau mit blassen, im Schoß gefalteten Händen gekommen war, hatte Nancy nichts mehr gehört, kein Wort seit der Bombe und der Kapitulation. Das Land war zerstört, sie hatte die Wochenschauen gesehen, im Radio gehört, dass Tokio von Brandbomben zerstört worden war. Ein neues Gehenna in Hiroshima und Nagasaki. In den Berichten ging es jedoch um Gebäude, um Beton und Stahl. Sie erwähnten nichts von den Toten und den Verstümmelten im Schatten des Atompilzes. Es wurden keine Einzelheiten über das menschliche Leiden veröffentlicht, man feierte nur den Triumph: Der Krieg war zu Ende. Sie hatte ihr Herz, ihre Augen, ihre Ohren davor verschlossen, was das für eine bestimmte Person in dem fernen Land bedeuten mochte.
Eine immer größer werdende Angst erfasste sie; wenn sie jetzt etwas sagte oder ihm in die Augen sah, würde sie in Tränen ausbrechen. Sie starrte auf einen lose am Faden hängenden Knopf an seinem Hemd. Am liebsten hätte sie laut geschrien: Verlass mich nicht! Erschrocken über die Erkenntnis, wie sehr sie ihn brauchte, presste sie stattdessen die Hand auf den Mund, um zu verhindern, dass solche Worte der Schwäche daraus hervorquollen.
Er nahm ihre Hand und hielt sie fest zwischen seinen.
»Wenn du nicht wärst, Nance«, sagte er. Und dann versagte ihm die Stimme.
Draußen war die Sonne hinter schweren Regenwolken verschwunden. Das Surren von Autoreifen. In der Stille zwischen zwei vorbeifahrenden Autos hörte sie ihn sagen: »Ich muss zurück.«
Sie entzog ihm ihre Hand und nickte, als hätte er ihr gerade erklärt, er müsse das Auto auftanken.
»Gut.«
Sie wartete verzagt.
»Wahrscheinlich ist sie eine Zahl in der Statistik«, sagte Joe. »Aber wer weiß? Es gibt Überlebende … Ich habe versucht, es zu verstehen«, fuhr er ohne Verbitterung fort, »zu akzeptieren, dass sie dachte, ich hätte ein besseres Leben, wenn sie mich weggibt. Aber so ganz begreife ich es immer noch nicht. Da muss noch etwas anderes sein.«
Und Nancy erkannte, dass dies der Moment der Wahrheit war.
»Ich kann dir sagen, was an jenem Tag in Nagasaki geschehen ist«, stieß sie hervor.
Niedergedrückt von einer Schuld, die sie ihr halbes Leben mit sich herumgetragen hat, findet sie nicht mehr die Kraft, einen neuen Schutzschild zu errichten.
»Ich habe mit ihr gesprochen, du warst mit Ben vor dem Haus und hast gespielt. Ich habe geredet und geredet. Sie hat einfach nur zugehört. Und schließlich habe ich einen Weg gefunden, zu ihr durchzudringen. Ich allein. Dein Vater hat nie etwas davon erfahren.
Ich hatte alles versucht: eine bessere Zukunft für dich, ein Junge braucht einen Vater und so weiter. Sie blieb ungerührt wie ein Stein. Dann«, Nancys Stimme gerät ins Stocken, »dann habe ich ihr gesagt, dass ich keine Kinder bekommen könnte. Außer dir würde Ben nie einen Sohn haben. Ich sagte ihr, wie sehr er darunter leiden würde, wenn es ihm verwehrt bliebe, für sein einziges Kind zu sorgen.
Ich sagte zu ihr: Sie sind noch jung, Sie können sich ein neues Leben aufbauen, weitere Kinder bekommen. Ben kann das nicht. Wir sind in Ihrer Hand.« Sie hält inne, holt tief und zittrig Luft.
Joe hat sich in der Vergangenheit oft gefragt, wieso Nancy keine eigenen Kinder bekommen hat. Es muss schwer für sie gewesen sein, sagt er sich jetzt, so jung zu erfahren, dass sie nicht schwanger werden konnte. Mit diesem Wissen zu leben.
»Ich habe es damals nicht gewusst. Ich habe etwas Schlimmes getan. Ich habe gelogen.«
Sie versucht, sich die Lippen zu befeuchten, aber
Weitere Kostenlose Bücher