Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
Vom Netzwerk:
ihre Zunge ist so trocken, dass sie ihr am Gaumen kleben bleibt.
    »Ich sagte ihr, ich sei unfruchtbar, und sie trennte sich von ihrem wertvollsten Schatz. Sie hat mir dich gegeben.«
    Jetzt ist es an der Zeit, die ihr so vertrauten Worte auszusprechen: dass sie sich selbst niemals verziehen hat. Dass die Kirche zum Feindesland geworden ist, Gott unerreichbar, dass sie nicht länger um Vergebung bitten kann. Aber sie sagt nichts davon.
    »Und dann stellte sich heraus, dass es die Wahrheit war. Wir haben es jahrelang versucht. Ich wurde nicht schwanger. Meine Lüge wurde zu einer Prophezeiung, die sich selbst erfüllte.«
    Als er sie in die Arme nimmt, bebt sie am ganzen Körper. Es überrascht Joe, wie klein sie ist, wie müde sie ihren Kopf an seine Brust legt. Sie, die immer die Stärkere gewesen ist. Er drückt sie an sich, reibt sein Kinn zärtlich an ihren Haaren.
    »Hey, Nance, ein gottesfürchtiges Mädchen geht mit sich selbst immer am strengsten ins Gericht«, und Nancy bringt ein zittriges Lachen zustande, und dann schluchzt sie an seiner Schulter, endlich kann sie loslassen, altes Leid und Kummer und Schuld, die sie seit vielen Jahren quält, weichen von ihr und machen Platz für Heilung.

Kapitel 54
    WAS HATTE ER sich von Tokio erwartet?
    Die Deutschen bombardierten Guernica, die Japaner Chungking, die Briten Dresden, die Amerikaner Tokio. Tokio, letzte Stadt in einer furchtbaren Reihe.
    In einer Märznacht ließen dreihundert Bomber vom Typ B-29 Superfortress eine halbe Million napalmgefüllter Brandbomben auf die Stadt unter ihnen fallen. Die um ihr Leben laufenden Bewohner wurden von Feuerwänden eingeschlossen und von einem glühend heißen Wind in die alles verzehrenden Flammen gezogen. Das Wasser in den Abflusskanälen kochte, und durch die Straßen flossen Ströme aus geschmolzenem Glas. Vögel gingen im Flug in Flammen auf. Fünfunddreißig Quadratkilometer Stadtgebiet wurden dem Erdboden gleichgemacht, mehr als hunderttausend Menschen kamen ums Leben, weitere vierzigtausend wurden verletzt, verbrannt. All das hat Joe gehört und gelesen. Jetzt steht er an dem Ort, an dem es geschehen ist.
    In Italien wurde er Zeuge der Verwüstung – leistete einen Beitrag dazu. Die Ruinen von Cassino, zerstörte Städte und Dörfer, die alles verwandelnde Hand des Krieges. Das hier ist etwas anderes.
    Die Stadt liegt in Schutt und Asche, dort, wo einmal Häuser standen, wo Menschen gearbeitet, gelebt und geschlafen hatten, nichts als rußschwarze Leere. Hier und da ragen aus den Trümmern die Überreste eines Bauwerks auf – die Außenmauern eines Kaufhauses, ein viereckiges steinernes Gebäude mit einem geborstenen Glockenturm, ein geschwärztes Gebilde, das einst ein Kino gewesen war, zwei verbogene Metalltürme, ehedem Bürogebäude.
    Vor langer Zeit war Joe in Kalifornien einmal durch eine Hügellandschaft gefahren, in der ein Feuer gewütet hatte, von dem einstigen Wald war nur noch ein schwarzes, rauchendes, dürres Skelett übrig. Wie dieser Wald ist Tokio ein Friedhof der Bäume: Kein einziges Holzgebäude hat den Feuersturm überstanden, nicht eine Behausung ist stehen geblieben.
    Auf geradezu unheimliche Weise unangetastet erhebt sich der Kaiserpalast hinter seinen Wällen, als würde er von einem magischen Burggraben geschützt. Ein paar Meter davon entfernt sieht Joe das gedrungene Gebäude der Dai-Ichi-Versicherung, solide wie eine Festung, in der unablässig Leute in Uniform ein und aus gehen, davor eine Reihe von Jeeps. Hier befindet sich das Hauptquartier der Amerikaner.
    Er tritt durch die Tür und befindet sich in Amerika. Ringsum alles auf Hochglanz poliert, bequeme Stühle; junge Männer in frisch gebügelten Uniformen eilen hin und her. Es gibt Deckenlampen, Schreibtischlampen, Stehlampen und Kronleuchter. Die Luft riecht anders.
    Am Empfang nennt er seinen Namen, legt seine Papiere vor. Hier gibt es keinen verstohlenen zweiten Blick, keine irritierende Abweichung. Joseph Theodore Pinkerton, groß, blond, blauäugig. Hier ist er der richtige Mann am richtigen Ort.
    Sein Name findet sich auf einer Liste, er wird identifiziert, erhält einen Stempel, aber dieses Mal mit einem Unterschied, dieses Mal macht er ihn zu einem von den Guten. Einem von denen, die hier das Sagen haben.
    Auf seinem Schreibtisch erwarten ihn Unmengen von Listen und Informationen: Richtlinien, Terminpläne, »Kategorien unterdrückter Meldungen«. Am Schreibtisch nebenan sitzt hinter einem Berg von Papieren ein

Weitere Kostenlose Bücher