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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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nachdenklichen Gesicht vertreiben. Sie wirkte jünger, wenn sie lachte.
    Er nahm einen frühen Zug, bahnte sich einen Weg durch Hunderte in Decken gehüllte Gestalten, die auf dem Boden des Bahnhofs schliefen. Vor dem Eingang trippelten ohne große Hoffnung auf Kundschaft ein paar Straßenmädchen in Korkplateauschuhen auf und ab, hinten auf die mit Tee braun gefärbten Beine hatten sie Nähte aufgemalt, damit es so aussah, als trügen sie die Strümpfe, die ihnen ein netter GI tatsächlich gelegentlich schenkte.
    Eine von ihnen, mit müden Augen und wild gekräuselten Haaren, sprach Joe an, als er an ihr vorbeiging.
    »Hallo, Süßer. Hast du Käse? Kraft Velveta?«
    Er griff in seine Tasche und holte ein Päckchen Kaugummi hervor, das er ihr mit einem gemurmelten » Tsumaranaimono desuga « gab.
    Verblüfft reagierte sie darauf mit einer instinktiven Verbeugung und ein paar gestotterten Dankesworten. Dann grinsten sie sich an. »Hey, Johnny«, rief sie ihm nach. »Du guter Amerikaner. Lernst schnell!«

Kapitel 55
    WIEDER EIN ZUG, der einem unbekannten Ziel entgegenfuhr. Er schwankte hin und her, eingelullt von dem Rhythmus, dem Geräusch von Stahl auf Stahl, das wie ein rascher Trommelwirbel klang, aber welches alte Lied konnte er dieses Mal zur Untermalung der über die Gleise ratternden Räder singen?
    Durchs Fenster sah er die Landschaft vorbeigleiten, und ihm wurde bewusst, wie klein hier alles war. Wie abwechslungsreich. Schmale Flüsse, zierliche Bäume, die sich über Abgründe neigten, Berge mit glitzernden Wasserfällen. Nicht wie in Amerika meilenweit Weizenfelder oder das Grasland der Prärie, das sich ohne Unterbrechung bis zum Horizont erstreckte. Da ein großer Teil des Landes zu gebirgig war, um es zu bestellen, fand hier Landwirtschaft im Miniaturformat statt, krumme Reisfelder neben Gemüsebeeten, der Anbau sorgfältig durchdacht, der Boden bis auf den letzten Zentimeter in dichten Reihen mit dieser oder jener Feldfrucht bepflanzt. Was würden die Leute hier zu den Rübenfeldern in Amerika sagen, die mit so viel Geschick von den Issei und den Nisei bestellt wurden, dunkelgrüne Flächen, die sich über die Ebene erstreckten, so weit das Auge reichte …
    Er saß allein in einem für Angehörige der Besatzungstruppen reservierten Abteil, während der Rest des Zuges mit japanischen Passagieren – »einheimischen Beschäftigten« – vollgestopft war. Das Gesicht an die Scheibe gepresst, erlaubte er es sich, sich gehen zu lassen, sich von dem Zug in eine Region des Schmerzes befördern zu lassen, der er sein Leben lang ausgewichen war; er hatte standgehalten, der Achterbahnfahrt, dem Gefühl des Verlusts, sich an verblassende Erinnerungen geklammert.
    Und dann war dieser Brief eingetroffen und hatte ihm auch noch seinen Verlust genommen, ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.
    Es gab gar keine tote Mutter, nur eine Frau in der Ferne, die unerwünschten Ballast abgeworfen und ihr Leben ohne das lästige Kind weitergelebt hatte. Das hatte er zumindest geglaubt; er hatte die Frau gehasst, die Erinnerung an Seide und eine weiche, gerundete Wange, bis Nancy ein anderes Bild gezeichnet hatte.
    Als er zwei Bahnhöfe und viele Stunden später die Durchsage hörte, als der Name des Ortes fiel, hatte er das Gefühl, ein Land zu betreten, das nur im Traum existierte.
    Nagasaki. Gab es das wirklich?
    Er stieg aus und sah sie am Ende des Bahnsteigs stehen: eine kleine, stämmige Frau mit einem breiten Gesicht in einem dunklen Gewand, das ein Mittelding zwischen Kimono und Kleid war. Suzuki.
    Mit klappernden Holzschuhen kam sie auf ihn zu und blieb mit ernstem Gesicht vor ihm stehen, dann verbeugte sie sich förmlich, und er tat es ihr nach. Schließlich fanden sie sich lachend und gleichzeitig ein bisschen verlegen und zittrig in einer Umarmung wieder.
    »Willkommen in Nagasaki«, sagte sie in sorgfältigem Englisch.
    »Woher wusstest du, dass ich in diesem Zug bin?«, fragte er auf Japanisch.
    Sie strahlte ihn erleichtert an: »Ah! Ich muss also nicht mein dürftiges Englisch hervorkramen.«
    Sie warf einen Blick auf den Zug. »Das ist der einzige heute.«
    Er blickte auf ihren Kopf hinunter, die dünner werdenden grauen Haare, die gefurchte Stirn. Ihr Gesicht war mit Falten überzogen, ein von der Zeit gewebtes Netz. Sie war geschrumpft, wie eine Frucht, die mit dem Alter vertrocknet.
    Er griff in seine Tasche und zog ein traditionell in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen heraus, das er ihr mit einer

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