Madame Butterflys Schatten
Spiegel an der Wand. »Ich komme erst spät zurück. Hab’ ein Rendezvous.«
»Ein Rendezvous?« Joey sah ihn skeptisch an. »Was hast du denn vor? Cocktails? Eine Pianobar? Ein Viergängemenü …«
»Für ein Rendezvous braucht man das alles nicht, Joey. Nur den Nachthimmel und ein bisschen Zweisamkeit.«
Weg war er, und obwohl die Nacht noch immer von Musik erfüllt war, hatte diese für Joey den Rhythmus des Lebens verloren. Er ließ sich auf das schmale Feldbett fallen, dachte über den kurzen, unbefriedigenden Abend nach und ertappte sich dabei, dass er geistesabwesend den Ofen anstarrte wie die alten Leute, die er durch die Fenster beobachtet hatte. Blues in the Night .
Ein grünes Kleid mit einem Muster aus knallroten Blüten. Eine dunkelrote Blume in ihrem Haar. Der Name einer Blume. Lily, Lilie. Sie hatte gelächelt, schüchtern seinen Arm berührt. Er hatte sich aufgeführt wie ein Vollidiot.
Er ließ die Szene noch einmal vor sich ablaufen, gab dem Gespräch eine andere Richtung, suchte nach einer Bemerkung, mit der er sie zum Lächeln brachte. Wenn sie lachte, warf sie dann wie die amerikanischen Mädchen mit weit aufgerissenem Mund den Kopf zurück und ließ ebenmäßige weiße Zähne sehen oder unterdrückte sie den Impuls und bedeckte den Mund mit der Hand, wie man es im Land ihrer Vorfahren machte?
Wenn er sie das nächste Mal sah, würde er sich entschuldigen, ihr erklären, dass er schlechter Stimmung gewesen sei. Sie würde ihm verzeihen, und sie würden im Speisesaal zusammen essen, den verkochten Fisch in immer noch kleinere Stücke schneiden, ohne Geschmack oder Konsistenz wahrzunehmen. In dem Film in seinem Kopf tanzten sie miteinander, er berührte ihre Wange.
Am nächsten Tag hielt er Ausschau nach Lily, aber offenbar hatte sie mit ihren Eltern Tule Lake ein paar Stunden zuvor verlassen: Die Quäker hatten eine Familie in Boston gefunden, die für sie bürgte.
An diesem Abend sah er auf dem Tisch neben Ichir ō s Bett zwischen dessen Uhr und ein paar in Zellophan gewickelten Bonbons eine zerdrückte rote Blume liegen. Er nahm sie in die Hand.
»Wo kommt die denn her?«
Ichir ō blickte von seinem Buch auf und griff nach einem Bonbon.
»Ich hab’ dir doch gesagt, dass ich ein Rendezvous hatte.«
War ihr Name Lily , hätte Joey am liebsten gefragt. Hat sie – hast du …
Er ließ die Blume zurück auf den Tisch fallen, nahm sein Handtuch und ging zu den Duschen.
Bei der nächsten Tanzveranstaltung wurde Joey von einem der »Mädels in ihren bezaubernden Kostümen« mit modisch gelockten, unnatürlich aussehenden Haaren angesprochen. Sie klopfte ihm spielerisch auf den Arm und forderte ihn zum Tanzen auf.
»Ich heiße Iris.«
»Wirklich?«
»Nein. Eigentlich heiße ich Ayame, aber das bedeutet Iris. Na ja, genau genommen bedeutet es Mondblume, aber das ist nun wirklich zu japanisch!« Sie lachte und zeigte ihre Zähne.
Als die Musik verklang und Joey noch immer die Arme um sie geschlungen hatte, legte sie den Kopf zurück und presste sich an ihn. Sie roch nach Blumen und Gesichtspuder.
»Hast du Lust auf ein Rendezvous?«
»Ja«, sagte er inbrünstig.
»Ich habe einen Gummi«, flüsterte sie. »Postversand.«
Kapitel 36
DER KONVOI DES Präsidenten bewegte sich langsam durch die Straßen, Roosevelt winkte, setzte sein strahlendes, väterliches Lächeln auf und ließ sich von seinen treuen Anhängern zujubeln. Zur Stärkung der Moral stattete er den Werften und Rüstungsbetrieben in Oregon einen Besuch ab.
Nancy nahm als Helferin der Demokratischen Partei an der Parade teil, sah den Präsidenten lächeln und aus seiner offenen Limousine winken, den Mantel lose über die Schultern geworfen. Seine Augen waren hinter den in der Sonne funkelnden Brillengläsern verborgen. Was ging ihm durch den Kopf? Er war jetzt eine Figur auf der Weltbühne und traf seinesgleichen auf Gipfelkonferenzen. Sie lebten in einem geschlossenen Universum, diese Leute; die Luft, die sie atmeten, wurde gefiltert, ihre Körper wurden bewacht, vor den Kümmernissen gewöhnlicher Sterblicher geschützt, sie waren Könige, ohne so genannt zu werden.
»Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst!«, hatte er einst erklärt und verzweifelten Menschen neue Hoffnung, neue Zuversicht gegeben, auch Nancy.
Eine großartige Zeit, ein großartiger Mann. Aber die Zeiten änderten sich und die Menschen mit ihnen, und heutzutage schenkte sie den Worten von Politikern nicht mehr so leicht
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