Madame Butterflys Schatten
das Dach und lief am Ofenrohr herunter, wo er zischend verdampfte. Es war schwül im Raum, tropisch. Seine ganz persönliche Südseeinsel.
In jenem fernen Land, in der Welt da draußen ging der Krieg weiter. Isoliert und entfremdet, verdrängten die jungen Leute diese Tatsache mit Musik und Geplauder und manchmal geradezu hysterischem Gelächter und verstohlenem Sex, während die älteren Lagerinsassen alles still, im Geiste von gaman, hinnahmen, sich um die Radioapparate drängten und besorgt dem Auf und Ab der Ereignisse lauschten, gefangen in Ungewissheit.
Ungewissheit war ein unerforschtes Land, in dem sich Joey allmählich heimisch fühlte: Für welche Seite sollte er Partei ergreifen? Für die Armee, die in Japan Familien verteidigte, oder für die Armee, die gegen die Feinde Amerikas kämpfte? Für jene, die auf Honolulu Schiffe bombardiert hatten, oder jene, die jetzt seine Gefängniswärter waren? Auf Pearl Harbor folgte die Schlacht von Midway – Niederlage oder Triumph, je nachdem, wo man stand.
»Die Japsen sind erledigt«, rief ein Wächter lauter als nötig einem seiner Kollegen zu. »Erledigt!«
Von Stacheldraht eingeschlossen, ohne Macht und Stimme, befand sich das Schicksal der Lagerinsassen in der Schwebe, sie waren Verlierer, ganz gleich, was passierte.
Shikata ga nai . Es ist nicht zu ändern.
Kapitel 38
IHREN GEBURTSTAG VERBRACHTE Nancy mit dem Verpacken von Verbandsmaterial. Mit einundvierzig kam sie sich zu alt für eine Party vor. Und wen hätte sie auch einladen sollen? Ohne irgendwo anzukommen, hastete sie zwischen ihrem Schreibtisch, dem Roten Kreuz und dem freiwilligen Dienst hinter der Theke der Militärkantine hin und her, aber sie hätte auch nicht gewusst, wo sie hätte ankommen wollen. Sie fühlte sich nützlich, aber was noch besser war: Sie war erschöpft, ein müder Geist in einem müden Körper – das brachte die Gedanken zum Erliegen.
Krieg führte zu Kummer und Angst. Ungewissheit. Sie lernte, die Nachrichten zu entschlüsseln. Aus dem, was die Regierung den Bürgern mitzuteilen geruhte, zog sie ihre Schlüsse, und die waren nicht immer ermutigend.
Aber auch in den Nachrichten aus der Heimat, in Joeys Briefen konnte sie zwischen den Zeilen lesen, und sie hatte Angst um ihn: Er zog sich von allem zurück, zu dem er sich früher zugehörig gefühlt hatte, und dadurch schien er sich zugleich von einer Vergangenheit zu distanzieren, die nicht die seine war, es aber hätte sein können. War es ein Fehler gewesen, ihn zu einem Amerikaner zu erziehen? Vielleicht hätte sie ihm mehr von dieser anderen Welt zeigen sollen, das näherbringen, was schließlich Teil seiner Vergangenheit war, eine Kultur, die eine Ozeanüberquerung überstanden hatte und hier auf eigene stille Weise weitergediehen war. Aber sie hatte Angst gehabt. Da war es wieder und lag auf der Lauer, dieses heimtückische Wort. Es gab nichts zu fürchten außer der Furcht selbst.
Eine wachsende, unbestimmte Unzufriedenheit beschlich sie. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich vor langer Zeit darauf gefreut hatte, »groß« zu sein, erwachsen, den älteren Frauen mit ihrem Stil und Selbstbewusstsein zu ähneln. Jetzt war sie über vierzig, und den Ton gaben die Jungen an. Es hätte doch irgendwann eine Zeit geben müssen, in der sie erwachsen und selbstbewusst war, bevor sich die Spirale wieder abwärts drehte, sich das Gefühl der Niederlage breitmachte? Offenbar war sie zu beschäftigt gewesen, um diese Zeit wahrzunehmen.
Die Stunden zu füllen, schien die einfachste Art zu sein, die Tage zu füllen, die Wochen, die Monate. Das Leben wurde zu einem Puzzle, ein Termin fügte sich an den nächsten, ließ ihr keine Zeit, Angst zu haben, und wenig Zeit, über andere Möglichkeiten nachzudenken.
Wenn Ben noch am Leben gewesen wäre … Wenn die Japaner nicht Pearl Harbor bombardiert hätten … Wenn sie jemand anderen kennengelernt und geheiratet hätte, wäre sie dann auch allein, wäre der imaginäre Mann, dessen Körper den ihren gewärmt hätte, in den Krieg gezogen?
Sie war in der Militärkantine gerade dabei, Teller aufeinanderzustapeln, als ein Mann auf der anderen Seite der Theke betrübt sagte: »Sie erkennen mich nicht wieder.«
Sie sah ihn an: groß, dünn, die Haare von ein paar grauen Strähnen durchzogen, ein nichtssagendes längliches Gesicht wie eine aufs Papier geworfene Karikatur: zwei Punkte für die Augen, ein Strich senkrecht, einer waagrecht.
»Müsste ich?«
»Tja. Wir haben uns
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