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Madame Hemingway - Roman

Madame Hemingway - Roman

Titel: Madame Hemingway - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula McLain
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einen Sessel in der Ecke, um über seinen Schlaf zu wachen. Erst in diesem Augenblick spürte ich das Ausmaß meiner eigenen Angst.
So verloren
, hatte er gesagt, und ich konnte es in seinen Augen sehen, die mich an die meines Vaters erinnerten. Was hatte das alles zu bedeuten? War diese Krise eine Folge seiner Kriegserfahrungen? Kamen die Erinnerungen von Zeit zu Zeit zurück, um ihn zu quälen, oder war es noch etwas anderes, ihm Ureigenes? Gehörte diese Traurigkeit auf solch fatale Weise zu Ernest, wie sie zu meinem Vater gehört hatte?
    Vom Bett her war ein leises Brummen zu vernehmen, mit dem Ernest sich zur Wand drehte. Ich wickelte mir die Decke enger um die Schultern und schaute aus unserem Schlafzimmerfenster in den stürmischen Novemberhimmel. Es hatte heftig zu regnen begonnen, und ich hoffte, der arme Kerlim Ruderboot war mittlerweile sicher ans Ufer gelangt. Allerdings wollte gar nicht jeder gerettet werden, der sich im Sturm auf offenem Wasser befand. Diese Erfahrung hatte ich in dem Sommer, in dem Dorothea starb, selbst gemacht. Mein Ferienfreund und ich waren unbeschadet aus dem Unwetter in Ipswich Bay herausgekommen, doch das war reiner Zufall gewesen. Wenn die tosenden Wasser nach mir gegriffen hätten, um mich in die Tiefe zu ziehen, hätte ich mich nicht dagegen gewehrt. Ich wollte an diesem Tag tatsächlich sterben, und es hatte auch noch andere Gelegenheiten gegeben. Nicht viele, aber es gab sie, und als ich Ernest in seinem unruhigen Schlaf zucken sah, fragte ich mich, ob nicht jeder Mensch diese Momente hatte. Und falls es so war, war es dann nur dem Zufall zu verdanken, wenn wir überlebten?
    Stunden später wachte Ernest auf und rief mich durch das dunkle Zimmer.
    »Ich bin hier«, versicherte ich und trat zu ihm.
    »Es tut mir so leid«, sagte er. »Manchmal bin ich so, aber du darfst nicht denken, dass du auf ein lahmes Pferd gesetzt hast.«
    »Was ist denn der Auslöser dafür?«
    Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, es passiert einfach.«
    Ich legte mich still neben ihn und strich ihm sanft über die Stirn, während er sprach.
    »Nachdem ich angeschossen wurde, war es eine Zeitlang ziemlich schlimm. Wenn ich tagsüber mit Angeln, Arbeiten oder irgendetwas anderem beschäftigt war, dann war alles in Ordnung. Auch nachts, wenn das Licht an blieb und ich mich vor dem Einschlafen ablenken konnte. Wenn ich alle Flüsse aufzählte, die ich kannte. Oder mir den Plan einer Stadt vorstellte, in der ich schon einmal gelebt hatte, und versuchte, mich an alle Straßen und alle guten Bars zu erinnern und an die Leute, die ich dort getroffen hatte, und worüber sie damalsredeten. Doch manchmal war es zu dunkel und zu still, und dann begann ich, mich an Dinge zu erinnern, die ich auf keinen Fall in meinem Kopf haben wollte. Weißt du, wie sich das anfühlt?«
    »Ein bisschen, ja.« Ich hielt ihn fest im Arm. »Es macht mir dennoch Angst. Ich hatte nie geahnt, wie unglücklich mein Vater war, aber auf einmal war er fort. Es war am Ende einfach zu viel für ihn.« Ich verstummte und legte mir meine Worte sorgsam zurecht. »Denkst du, du wirst es merken, wenn es zu viel für dich ist? Ich meine, bevor es zu spät ist.«
    »Willst du ein Versprechen?«
    »Kannst du?«
    »Ich denke schon. Ich kann es zumindest versuchen.«
    Wie unglaublich naiv wir beide in dieser Nacht waren. Wir hielten uns aneinander fest und gaben uns Versprechen, die wir nicht halten konnten und die wir nie hätten aussprechen sollen. Aber so ist die Liebe manchmal. Ich liebte ihn bereits mehr, als ich je zuvor etwas oder jemanden geliebt hatte. Ich wusste, dass er mich dringend brauchte, und ich wollte, dass er niemals aufhörte, mich zu brauchen.
     
    Um Ernests willen versuchte ich stark zu sein, doch ich hatte keine leichte Zeit in Chicago. Seine Versenkung in die Arbeit machte mir schmerzlich bewusst, dass ich selbst keine wirkliche Leidenschaft besaß. Ich übte regelmäßig am Klavier, da ich das schon immer getan hatte, doch wir hatten nur ein kleines geliehenes Klavier, nicht den eleganten Steinway-Flügel meiner Kindheit, und in unserer zugigen Wohnung hatte es sich komplett verstimmt. Da ich keine Freunde mehr in Chicago besaß, vergingen ganze Wochen, in denen ich mit keinem Menschen außer Ernest und unserem Lebensmittelhändler Mr. Minello sprach. Jeden Nachmittag lief ich die drei Blocks bis zum Markt, um mich mit ihm zu unterhalten. Manchmal machte eruns eine Tasse starken Tee, der leicht nach Pilzen und Asche

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