Madame Hemingway - Roman
Worte in unserer düsteren Küche laut vorzulesen. In jedem Brief stand grundsätzlich dasselbe, nämlich dass dieser Ernest Hemingway ein zwar unerprobter, aber prächtiger junger Zeitungsmann sei, dessen »außergewöhnliches Talent« ihn weit über die Grenzen des Journalismus’ hinaus bringen werde.
Als wir in dieser Nacht im Bett von Paris sprachen und träumten, flüsterte ich Ernest ins Ohr: »Bist du dieser prächtige junge Schriftsteller, von dem ich gehört habe?«
»O Gott, das hoffe ich.« Er drückte mich fest an sich.
Am 8. Dezember 1921 befanden wir uns dann an Bord der
Leopoldina
, als diese sich auf den Weg nach Europa machte. Unser gemeinsames Leben hatte endlich begonnen. Wir hielten uns aneinander fest und schauten aufs Meer hinaus. Es war unendlich weit und barg Schönheit und Gefahren zugleich – wir wollten alles.
Zwölf
Unsere erste Wohnung in Paris lag in der Rue du Cardinal-Lemoine Nummer 74 und bestand aus zwei seltsam geschnittenen Räumen im vierten Stock eines Hauses, das direkt neben einem Tanzlokal, einem
bal musette
, lag, wo man täglich gegen Eintritt über den Tanzboden fegen konnte, während das Akkordeon eine lebhafte Melodie spielte. Anderson hatte uns zwar Montparnasse empfohlen, doch wir konnten uns dort ebenso wenig eine Wohnung leisten wie in einer der anderen Gegenden, die gerade in Mode waren. Das hier war das alte Paris, das fünfte Arrondissement, weit entfernt von den guten Cafés und Restaurants, wo es nicht von Touristen wimmelte, sondern von Parisern der Arbeiterklasse mit ihren Karren und Ziegen und Obstkörben und zum Betteln geöffneten Händen. Da so viele Ehemänner und Söhne im Krieg gefallen waren, sah man hauptsächlich Frauen und Kinder und alte Männer, was den ernüchternden Gesamteindruck der Gegend noch verstärkte. Die gepflasterte Straße wand sich von der Seine nahe des Pont de Sully aufwärts bis zur Place de la Contrescarpe, wo die Betrunkenen, die aus den Bistros fielen oder in Hauseingängen schliefen, ihren Gestank verströmten. Man sah einen großen Haufen Lumpen, und wenn dieser plötzlich anfing, sich zu bewegen, wurde einem erst bewusst, dass hier eine arme Seele ihren Rausch ausschlief. In den engen Gassen um den Platz herum sangen die Kohlehändler mit ihren schmutzigen Säcken voller
boulets
auf dem Rücken. Ernest war auf Anhieb begeistert von diesem Ort, ich dagegen war enttäuscht und hatte Heimweh.
Die Wohnung war bereits möbliert mit einer hässlichen Essgruppe aus Eiche und einem riesigen Bett aus Mahagoni-Imitatmit goldenen Verzierungen. Die Matratze war gut, wie man es in Frankreich auch erwarten würde, da hier anscheinend fast alles im Bett gemacht wurde: Essen, Arbeiten, Schlafen und sehr viel Liebe. Es war so ziemlich das Einzige, woran wir in unserer Wohnung nichts auszusetzen hatten, abgesehen vielleicht noch von dem hübschen schwarzen Kaminsims im Schlafzimmer.
Wir fingen sofort an, die Möbel umzustellen, trugen den Esstisch ins Schlafzimmer und platzierten ein gemietetes Klavier im Esszimmer. Als das geschehen war, setzte Ernest sich an den Tisch und schrieb einen Brief an seine Familie, die auf eine Nachricht von uns wartete, während ich mich ans Auspacken unseres Hochzeitsgeschirrs und ein paar anderer hübscher Sachen machte, die wir mitgebracht hatten, etwa das elegante Teeservice mit dem Muster aus lachsfarbenen Rosen und Blättern, das uns Fonnie und Roland geschenkt hatten. Während ich die runde Teekanne zärtlich in den Händen hielt und überlegte, wo sie in meiner winzigen, mittelalterlichen Küche ihren Platz finden würde, überkam mich eine solche Sehnsucht nach daheim, dass ich anfing zu weinen. Es war nicht einmal so sehr St. Louis, wonach ich mich sehnte, sondern eine größere und eher vage Vorstellung von Heimat: Menschen und Dinge, die man kennt und liebt. Ich dachte an die große Veranda des Hauses unserer Familie am Cabanné Place, aus dem wir nach dem Suizid meines Vaters ausgezogen waren: die Schaukel, die ein zirpendes Geräusch machte, wenn ich darin lag, mein Kopf auf einem Kissen, mein Blick starr auf die mit lackiertem Holz getäfelte Decke gerichtet. Nach wenigen Minuten war ich tränenüberströmt und musste die Teekanne abstellen.
»Höre ich meine Feather Kat etwa weinen?«, fragte Ernest aus dem Schlafzimmer.
»Leider ja«. Ich lief zu ihm, schlang ihm die Arme um den Hals und vergrub mein feuchtes Gesicht in seinem Kragen.
»Armes nasses Kätzchen«, sagte er. »Mir geht
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