Madame Hemingway - Roman
aus dem Bett. Vom Balkon aus sah ich, dass auf der Straße noch genauso viele Menschen waren wie am Abend zuvor, doch sie kamen mir nun konzentrierter und zielgerichteter vor. Bald würde der Stierlauf beginnen, doch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich spürte nur, dass irgendetwas geschehen würde. Ich trat zurück ins Zimmer und zog mich ganz leise an. Ernest erwachte dennoch aus seinem leichten Schlaf. Als wir wieder gemeinsam auf dem Balkon standen, war gerade eine Kanone abgefeuert worden, und wir sahen, wie sich ihr weißer Rauch über den Platz verteilte. Die dort versammelte Menge begann zu singen. Wie sich herausstellte, hatten wir ein Zimmer in bester Lage ergattert, denn wir bekamen von unserem Platz aus alles mit. Eine Gruppe Männer und Jungen sang ein feuriges Lied auf Spanisch. Ich verstand zwar kein Wort davon, aber das war auch gar nicht nötig.
»Ich glaube, sie singen von der Gefahr«, rief ich Ernest über den Lärm hinweg zu.
»Von der Freude an der Gefahr«, erwiderte er. »Sie wollen sich selbst auf die Probe stellen. Sehen, ob sie ihrer Angst davonlaufen können.«
Er wusste, dass die Stiere bald freigelassen werden würden. Gertrude und Alice hatten ihm ebenso wie Mike Strater bis ins Detail von der Fiesta berichtet, der sie im letzten Jahr beigewohnt hatten. Doch Ernest hatte es nicht genügt, davon zu hören, er wollte es mit eigenen Augen sehen. Und wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hätte er wohl gar nicht auf diesem Balkon gestanden. Denn eigentlich wollte er dort unten auf dem Platz sein und sich für den Lauf bereit machen.
»Viva San Fermín«, rief die Menge. »Gora San Fermín!«
Ein weiterer Kanonenknall ertönte und die Stiere kamen frei. Die Läufer jagten über das Kopfsteinpflaster. Sie trugen weiße Hemden und Hosen und hatten rote Tücher um ihre Taillen und Hälse gebunden. Manche wedelten mit Zeitungen, um die Stiere abzulenken, und sie alle wirkten wie in Ekstase. Hinter den Läufern donnerten sechs Stiere durch die Straße unter uns und brachten das ganze Haus zum Erzittern. Ihre Hufe hallten auf den Steinen, und sie wirkten mörderisch mit ihren großen, dunklen, tief geneigten Köpfen. Einige Männer wurden in die Enge getrieben und mussten hastig an den Absperrungen am Straßenrand hochklettern. Die Zuschauer halfen ihnen zwar zu entkommen, doch zugleich lag eine Erwartung in der Luft, ob vielleicht ein Unglücklicher nicht schnell oder gelenkig genug sein würde.
So weit wir es mitbekamen, fiel an diesem Tag jedoch niemand den Hörnern zum Opfer, und ich war extrem erleichtert, als die Stiere sicher in der Arena eingeschlossen waren. Das gesamte Ritual hatte nicht länger als ein paar Minuten gedauert, doch nun bemerkte ich erst, dass ich dabei die Luft angehalten hatte.
Zum Frühstück tranken wir wunderbar süßen
Café con leche
und aßen kleine Brötchen dazu. Danach legte ich mich noch einmal ins Bett, während Ernest einen Spaziergang durch die Straßen Pamplonas unternahm und alles, was er sah, inseinem Notizbuch festhielt. Alles war Poesie für ihn. Etwa die runzligen Gesichter der alten baskischen Männer, die alle die gleiche blaue Mütze trugen. Die jungen Männer dagegen trugen breitkrempige Strohhüte auf dem Kopf und handgenähte Weinschläuche über der Schulter. Ihre Arme und Rücken waren von der harten körperlichen Arbeit muskelbepackt. Ernest kam von all dem ganz aufgeregt zurück in unser Zimmer und erzählte von der perfekten, knusprigen, mit gebratenem Schinken und Zwiebeln gefüllten Forelle, die er gerade zum Mittagessen verspeist hatte.
»Der beste Fisch, den ich je gegessen habe. Zieh dich an. Den musst du probieren.«
»Willst du wirklich in dasselbe Lokal zurückgehen und mir beim Essen zusehen?«
»Von wegen zusehen. Ich werde mir noch eine Portion davon bestellen.«
Für den ersten Kampf an diesem Nachmittag besaßen wir gute
barrera
-Plätze, von denen aus wir das Geschehen aus nächster Nähe betrachten konnten. Ernest hatte dafür extra einen Aufpreis bezahlt, trotzdem wollte er mich immer noch vor dem Anblick schützen.
»Schau jetzt nicht hin«, sagte er, als der erste Reiter die lange, mit Widerhaken versehene Banderilla in den Widerrist des Stiers stieß und das Blut aus der Wunde strömte. Er wiederholte diese Worte, als ein Pferd von den Hörnern des Tiers aufgeschlitzt wurde, und noch einmal, als der ausgezeichnete junge Torero Nicanor Villalta seinen Stier mit geschickter Präzision tötete. Doch
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