Madame Hemingway - Roman
ich wandte den Blick kein einziges Mal ab.
Wir verbrachten den ganzen Nachmittag auf unseren Plätzen an der
barrera
und sahen sechs Stiere sterben. Ich schaute und hörte die ganze Zeit über hin und war völlig in den Bann gezogen. Zwischen den Kämpfen nähte ich ein weißes Baumwolldeckchen für das Baby.
»Du hast mich überrascht«, erklärte Ernest, als der Tag sich dem Ende zuneigte.
»Tatsächlich?«
»Du bist nicht dazu erzogen worden, etwas Derartiges anzuschauen. Ich muss mich bei dir entschuldigen, denn ich hätte gedacht, dass du es nicht aushältst.«
»Ich wusste vorher nicht, wie ich mich fühlen würde, aber jetzt kann ich es dir sagen: sicher und stark.« Ich war am Ende einer Naht angelangt und machte einen ordentlichen flachen Knoten, wie meine Mutter es mir als Kind beigebracht hatte. Zufrieden mit meiner Arbeit, strich ich den Stoff mit den Fingerspitzen glatt und dachte auf einmal daran, wie schockiert meine Mutter wäre, wenn sie mich an diesem leidenschaftlichen, gewalttätigen Ort sehen würde, wie ich keine Miene verzog, sondern damit zurechtkam, als wäre es mir in die Wiege gelegt worden.
»Ich habe dir doch erzählt, dass ich als ganz kleines Kind furchtlos war.«
Er nickte.
»Ich schätze, meine Familie war glücklich, als ich diese Furchtlosigkeit verlor.«
Er schaute mich durchdringend an: »Ich glaube nicht, dass du sie je wirklich verloren hast. Ich kann sie gerade jetzt in deinen Augen sehen.«
»Das Baby macht mich stärker. Ich spüre, wie es sich bewegt, wenn die Menge in Aufruhr gerät. Es scheint ihm zu gefallen.«
Ernest lächelte vor offensichtlichem Stolz und sagte: »Familien können grausam sein, unsere wird aber anders.«
»Unser Baby soll alles erfahren, was wir wissen. Wir werden sehr ehrlich sein und ihm nichts verheimlichen.«
»Und wir werden ihn nicht unterschätzen.«
»Oder ihn das Leben fürchten lassen.«
»Da steht ja einiges auf der Liste«, bemerkte Ernest, und wir lachten glücklich, da uns unsere Wünsche in beste Laune versetzten.
Spät am selben Abend, als wir wegen des Feuerwerks, der Trommeln und des
Riau-Riau -Tanzes
draußen nicht schlafen konnten, fragte Ernest: »Was hältst du von Nicanor als Name für das Baby?«
»Mit diesem Namen wird er garantiert ein großartiger Torero. Ihm bleibt ja gar keine andere Wahl.«
»Wir hatten ziemlich viel Spaß, oder?« Er drückte mich fest an sich.
»Damit muss es doch nicht vorbei sein.«
»Nein, aber ich denke, ich muss sehr zuverlässig sein, wenn das Baby kommt. Ich werde die Brötchen verdienen und der Papa sein und keine Zeit haben, darüber nachzudenken, was
ich
will.«
»Vielleicht das erste Jahr über, aber doch nicht für immer.«
»Ich werde also ein Jahr opfern. Und dann muss er sehen, wie er zurechtkommt.«
»Nicanor«, wiederholte ich. »Das klingt gut, oder?«
»Ja, aber das heißt nicht, dass der kleine Scheißer mehr als ein Jahr bekommt.«
Fünfundzwanzig
Ich wünschte mir Zuckermelonen, ein schönes Stück Käse, Kaffee, gute Marmelade und Waffeln. Beim Gedanken daran wurde ich so hungrig, dass ich nicht mehr einschlafen konnte.
»Waffeln«, flüsterte ich im Morgengrauen Ernests Rücken zu. »Wäre das nicht herrlich?«
Als er sich nicht rührte, wiederholte ich es etwas lauter, legte meine Hand auf seinen Rücken und schubste ihn sanft an.
»Verdammt noch mal«, rief er und setzte sich auf. »Jetzt sind sie weg.«
»Was ist weg?«
Er saß am Fußende der dicken Matratze und kratzte sich am Knie. »Die richtigen Worte für meine Skizze.«
»Oh, das tut mir leid«, sagte ich.
Ich sah zu, wie er sich anzog und in Richtung Küche verschwand. Binnen Minuten hörte ich, wie der Kaffee kochte, konnte ihn riechen, und bekam noch größeren Hunger. Ich vernahm, wie er sich einen Kaffee einschenkte und sich in den quietschenden Stuhl zurücklehnte. Stille.
»Tiny?«, fragte ich aus dem Bett heraus. »Was meinst du zu den Waffeln?«
Er stöhnte und schob den Stuhl zurück. »Und wieder sind sie fort.«
Die Monate zogen nur so an uns vorüber. Unser Baby sollte Ende Oktober kommen, und wir wollten uns Ende August nach Kanada einschiffen. Dann hätten wir sechs bis sieben Wochen, um eine Wohnung zu finden und alles vorzubereiten. Je näher der Zeitpunkt heranrückte, desto härter arbeitete Ernest und desto mehr sorgte er sich. Er hatte Angst, dass ihm nichtgenügend Zeit bleiben würde, die restlichen Miniaturen für Jane Heap und die
Little Review
fertigzustellen.
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