Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Madame Lotti

Madame Lotti

Titel: Madame Lotti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Arx
Vom Netzwerk:
nämlich nie mehr auftauchen, das ist doch grossartig.»
    Spätestens jetzt wird mir klar, dass es nicht nur die räumliche Situation ist, die mir diesen Film ins Gedächtnis ruft. Es ist wohl auch seine Thematik. Dem Ruf des Meeres folgen! Dem Ruf des Herzens folgen? Der Tiefenrekord-Taucher tauschte Luft gegen Wasser, Höhe gegen Tiefe. Lotti tauschte Bequemlichkeit gegen Regsamkeit, änderte sattes Wohlgefühl erst zu ruheloser Unzufriedenheit und verwandelte diese schliesslich in tiefe Zufriedenheit. Und dies ganz einfach, weil sie musste. Weil es keinen anderen Weg gab. Weil ihr das Ziehen in ihrem Innersten gar keine andere Wahl liess.
    «Dass das Band zu meiner Familie dabei nicht zerrissen ist», sagt Lotti jetzt, «ist einzig und allein dem Verständnis meines Mannes zu verdanken.»
    Sie werde mir zu Hause, wenn ich wolle, einen Text vorlesen, den sie damals geschrieben habe, als sie glaubte, zwischen dem Drängen in ihrem Körper und dem Verantwortungsgefühl gegenüber ihren Liebsten zermalmt zu werden.
    Dann reden wir über Belanglosigkeiten, alles andere würde verhindern, dass wir uns die wirklich hervorragenden Spaghetti schmecken lassen können.
    Auf der Rückfahrt hängt jede ihren eigenen Gedanken nach. Bloss einmal unterbreche ich das Schweigen, um zu fragen, ob das, was die vielen Händler an der Strasse in die Höhe halten, tatsächlich lebende Schildkröten seien.
    «Nein, es sind tote! Deshalb rudern sie ja auch so verzweifelt mit ihren vier Beinen durch die Luft!» Eins zu null für Lotti.
    In ihrem Zimmer stellt sie erst einmal die Klimaanlage ein, sucht dann in einem Stapel Papier ein Heft heraus, blättert es langsam durch, hockt sich rittlings auf den einzigen Stuhl, liest:
    Warum nur füge ich diese Schmerzen meiner Familie, meinen Kindern, meinem Mann zu? Warum lasse ich die Menschen, die ich über alles liebe, so sehr leiden? Warum nehme ich meiner kleinen Sarah mich, ihre Mutter, weg?
    Bin ich vielleicht einfach nur bösartig, gemein, abscheulich? Was hat mir so den Kopf verdreht und das Herz zerstört? Ergibt das irgendeinen Sinn? Ist alles Irrsinn? Haben die Leute, die sagen, Afrika habe mich verhext, doch Recht? Ich liebe dieses Land, liebe diese Menschen, liebe mein Leben hier, aber ich liebe auch, und dies je länger, je mehr, meine Familie. Wo ist mein Platz?
    Ist es Stolz, Verbohrtheit, dass ich hier bleibe? Was will ich damit bezwecken, was beweisen? Manchmal empfinde ich so grosse Übelkeit darüber, was ich Aziz und den Kindern antue, dass ich ganz seekrank werde. Ob ich wohl alles verliere? Wie lange werden sie auf mich warten? Wie lange sich noch gedulden? Wenn wir doch nur alle hier sein könnten, wenn man das alles irgendwie vereinen könnte. Aziz hat mich bei einem unserer raren Telefone gefragt, ob auch ihm irgendwann eine Türe aufgemacht würde, wenn er nur lange genug klopfe. Gott, bitte zeig mir den Weg, bevor alles zu spät ist
.
    Lotti legt das Blatt auf ihren übervollen Schreibtisch, sieht mich an, fragt: «Verstehst du?»
    Ich suche in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch. Nicht für mich. Für Lotti, doch sie lacht mich, unter Tränen, aus: «Da muss eine Rolle Toilettenpapier her, alles andere reicht nirgendwohin.»
    Sie steht auf, geht raus. Kommt schnäuzend wieder ins Zimmer, schluckt die letzten Tränen runter, sagt: «Aziz hat nicht aufgegeben, hat immer wieder an die Tür geklopft. Dafür bin ich ihm unendlich dankbar. Er hat es geschafft, nicht nur sein Leiden, sondern auch das unserer Kinder zu lindern.»
    «Und er hat damit», stelle ich ungefragt fest, «auch deines gedämpft.»
    Lotti nickt, fragt, ob ich immer noch daran denke, Aziz zu besuchen.
    «Mehr denn je», antworte ich, «aber ich halte mich noch zurück, weisst du, ich möchte nicht frisch verheilte Wunden aufreissen.»
    «Nett von dir, aber unnötig. Gehen wir?»
    Ich muss nicht fragen, wohin, ich weiss, wo sie ihren «freien Tag», an dem das Ambulatorium geschlossen bleibt, verbringt. Wir gehen ins Sterbespital, finden die meisten wach vor. Kein Wunder, bei dem Geschrei. Ich weiss sofort, was es zu bedeuten hat: Solange, das Kindermädchen, schrubbt die Kleinen sauber. Sie tut dies nicht nur gründlich, sondern auch gleich – Sonntag hin oder her – zweimal pro Tag. Danach pudert sie die Wichte vom Scheitel bis zur Fusssohle weiss, verwandelt sie in kleine Gespenster, die nach Menthol riechen, wickelt sie neu und schickt sie schliesslich mit einem freundlichen Klaps auf den Po

Weitere Kostenlose Bücher